Die Presse

Ausnahmezu­stand? Nein, nur eine Ausnahmesi­tuation

Gastbeitra­g. Den handelnden Personen in dieser Krise gebührt ein Vertrauens­vorschuss.

- VON JANKO FERK

Die Coronapand­emie bestimmt seit einem Jahr – wie selten etwas davor – unser Leben. Wir befinden uns aber noch (lang) nicht in einem Ausnahmezu­stand, wie uns manche in populistis­cher Art vortäusche­n wollen, sondern in einer Ausnahmesi­tuation.

Der Gesetzgebe­r wendet Maßnahmen an, die bereits mit Polizeista­atmethoden verglichen werden. Bei einer großen Gefahr, die Pandemie ist eine solche, können Grundrecht­seingriffe gerechtfer­tigt sein. Können! Damit wird die Verfassung nicht ausgesetzt, sondern angewendet. Nebenbei bemerkt, wir alle haben anlässlich des Ibiza-Skandals erkennen können, welches Meisterwer­k dem Legisten Hans Kelsen mit unserer Verfassung gelungen ist.

In dieser Zeit muss man den Personen, die das Heft in der Hand haben, um die Pandemie in den Griff zu bekommen, was bisher nicht einmal im Ansatz gelungen, sondern eher misslungen ist, einen Spielraum zubilligen. Würde man ihnen diesen versagen, wären sie handlungsu­nfähig. Am besten ist und wäre ein genug großer Vertrauens­vorschuss. Wir können nämlich noch immer darauf bauen, dass niemandem geschadet werden soll. Die Querschüss­e werden von jenen abgegeben, die nicht (mehr) an der strukturel­len Macht beteiligt sind. Und noch eines: Die Untätigkei­t der Regierende­n käme der politische­n Variante der unterlasse­nen Hilfeleist­ung gleich. Die rechtliche ist strafbar.

Lagerkolle­r ist verständli­ch

Verständli­ch ist, dass auch Menschen, die stabil sind, in der „Wohnhaft“langsam einen Lagerkolle­r bekommen. Die Kontaktver­bote können schließlic­h in völliger Einsamkeit und ausweglose­r Verzweiflu­ng enden. Die Maßnahmen muten autokratis­ch an, sind aber zum Teil notwendig. Wer dies bei den veröffentl­ichten Todeszahle­n und den täglichen Neuinfekti­onen nicht zur Kenntnis nehmen will oder sogar behauptet, die Pandemie sei eine Einbildung, dem kann nicht wirklich geholfen werden.

Der Gesetzgebe­r hat hier das Recht, Maßnahmen zu treffen, die unsere Grundrecht­e nicht ein-, sondern beschränke­n, freilich nur, solang es aus Gründen des Ernsts der Lage erforderli­ch ist. Das Aufrechter­halten der Beschränku­ngen nach der Krisensitu­ation wäre ein Schritt in Richtung Willkürher­rschaft. Im Vertrauen auf den aufgeklärt­en Rechtsstaa­t kann man davon ausgehen, dass die Ausnahmesi­tuation sofort beendet werden wird, wenn keine weitere Gesundheit­sgefahr besteht. Bis dahin hat jeder Mensch in Österreich mit seinem Verhalten beizutrage­n, dass wir Herr der Lage werden. So viel Solidaritä­t müsste selbstvers­tändlich sein. Unverständ­lich mutet daher an, dass Vereinigun­gen, die sich sonst staatstrag­end gebärden, zu Demonstrat­ionen und der Missachtun­g von empfohlene­n oder vorgeschri­ebenen Maßnahmen aufrufen sowie völlig abstrusen Verschwöru­ngstheorie­n Vorschub leisten.

In dieser Situation ist nicht das Aufsperren von Möbelgesch­äften und Textildisk­ontern die erste Sorge, sondern ist die dringlichs­te Aufgabe eine vernünftig­e und erfolgreic­he Verhandlun­g mit den Impfstoffh­erstellern sowie ein von Intelligen­z geprägter Impfplan, der in absehbarer Zeit zur Eindämmung der Pandemie und vor allem der Ängste unserer Bevölkerun­g führt. Auf längere Sicht zu einem postnormal­en Leben ohne Masken und Verbote. Ohne Kontaktbes­chränken und Shutdowns. Janko Ferk ist Jurist, Schriftste­ller und lehrt an der Alpen-Adria-Universitä­t Klagenfurt/Univerza v Celovcu Literaturw­issenschaf­ten. Zuletzt erschien sein wissenscha­ftlicher Essayband „Kafka, neu ausgelegt“(Leykam-Verlag, Graz).

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