Brauchen wir eine Corona-Diktatur?
Gastbeitrag. Die neuen Corona-Mutationen lassen die Angst vor einem Kollaps des Gesundheitssystems steigen. Manche fragen, ob eine effektive Pandemiebekämpfung mit demokratischen Mitteln überhaupt gelingt.
Wissenschaftliche Expertise ist Trumpf in der Coronapandemie. Virologie und Epidemiologie liefern den Regierenden das Rüstzeug für ihr politisches Krisenmanagement. In ihren politischen Empfehlungen liegen die Fachleute freilich nicht immer auf einer Linie.
Zwei Thesenpapiere illustrieren die grundsätzliche Bruchlinie innerhalb der Expertenschaft: Im Oktober 2020 veröffentlichten drei Epidemiologen in Great Barrington (Massachusetts) eine Erklärung, die in kurzer Zeit von einer halben Million besorgter Bürger und Fachleute unterzeichnet wurde. Die „Great Barrington Declaration“empfahl die Rückkehr zur Normalität. Die Lockdown-Politik trage zu einer Verschlechterung der öffentlichen Gesundheit und einer Verschärfung der sozialen Ungleichheit bei. Die Empfehlung lautete: Risikopersonen sollen isoliert werden, alle anderen aber ein normales Leben führen.
Dagegen regte sich Widerstand. Die Verfasser eines GegenMemorandums, das online von rund 7000 Wissenschaftlern unterzeichnet wurde, lehnen jede Strategie, die auf Herdenimmunität zielt, ab. Schließlich sei die Sterblichkeitsrate von Covid-19 viel höher als bei der Grippe; Infektionen könnten auch bei Jüngeren zu Dauerschäden führen, und außerdem sei der Kreis der Risikopersonen viel zu groß, um diese wirkungsvoll schützen zu können.
Damit leben oder ausrotten?
Die Empfehlung lautet: Die Corona-Infektionen müssen unbedingt auf ein niedriges Niveau abgesenkt werden. Diese beiden Argumentationen dominieren bis heute den Corona-Streit: Während die einen betonen, dass wir lernen sollten, „mit dem Virus zu leben“(wie es der ehemalige WHO-Epidemiologe Klaus Stöhr formuliert hat), beharren die anderen darauf, dass wir das Virus ausrotten müssen. So etwas wie eine friedliche Koexistenz sei eine gefährliche Illusion. Nur eine „konsequente Eliminierung“, so fordert die „No Covid“-Initiative, führe zum geringsten gesellschaftlichen Schaden. Notwendig sei daher die Senkung der Fallzahlen unter eine Inzidenz von zehn, später dann auf null.
Obwohl die Verfasser der „No Covid“-Strategie, darunter Clemens Fuest, Ökonom und Präsident des Ifo-Instituts, sowie Manuela Brinkmann, eine der sichtbarsten Virologinnen in der Krise, einen guten Zugang zur Politik haben, folgte die deutsche Bundesregierung ihren Empfehlungen bislang nicht. Gesundheitsminister Jens Spahn sagte im Vorfeld des aktuellen Bund-Länder
Gipfels zu Corona, aus seiner Sicht sei der Preis für eine Null-CovidStrategie zu hoch.
Manche bringt das auf die Palme. Angesichts der rasanten Ausbreitung hochinfektiöser CoronaMutationen, die teilweise auch die Wirksamkeit der aktuell verfügbaren Impfstoffe herabsetzen, wird die Forderung lauter, dass die Politik endlich den Empfehlungen der Expertenmehrheit folgen solle. Schließlich, so die Vermutung, werden die neuen Corona-Varianten ohne drastische Gegenmaßnahmen die Ansteckungsraten extrem in die Höhe treiben. Angesichts der drohenden Gefahren beginnen sich daher viele zu fragen, ob eine effektive Pandemiebekämpfung denn überhaupt mit demokratischen Mitteln möglich ist.
Zu langsam, zu schwach?
Ist demokratische Politik denn nicht viel zu langsam, zu durchsetzungsschwach, zu sehr konsens- und kompromissorientiert? Können wir uns angesichts drängender Überlebensfragen langwierige, typisch demokratische Abwägungsprozesse überhaupt noch leisten? Sollten wir nicht „mehr Diktatur wagen“, wie der Schriftsteller Thomas Brussig kürzlich in der „Süddeutschen Zeitung“ohne jede Ironie vorgeschlagen hat?
Diese Tonlage erinnert an Zeiten, als die Zerstörung der Ozonschicht die Welt in Aufruhr versetzte und die Angst vor der globalen Erwärmung einsetzte. Damals, in den frühen 1980er-Jahren, wurde der Ruf nach einer „Öko-Diktatur“laut. Heute bietet erneut die Antizipation eines Ausnahmezustands manchen den Anlass, autoritäre Lösungen für den guten Zweck anzupreisen.
Jede Demokratie, die sich der Verwirklichung eines absoluten, unteilbaren Werts verschreibt, argumentierte der österreichische Verfassungsrechtler und Soziologe Hans Kelsen vor 100 Jahren, läutet ihr eigenes Ende ein. Denn wird ein normatives Ziel erst einmal außer Streit gestellt (z. B. Gleichheit, Klimagerechtigkeit oder Lebensschutz), hat die Politik nur noch dafür zu sorgen, dass dieses Ziel möglichst schnell und sicher erreicht wird. Mitbestimmung und Bürgerbeteiligung erweisen sich im Rahmen einer administrativen Politik, die allein der „Wahrheit“folgt, schnell als hinderlich. Der Realsozialismus hat das eindrucksvoll vorgeführt. Aus dem hohen Anspruch einer „echten“, nämlich sozialen Demokratie hat sich im Ostblock schnell die trostlose Realität einer Kaderherrschaft entwickelt. Schließlich wusste niemand besser als die Partei um die Wahrheit und den richtigen Weg.
Mit Blick auf die Coronakrise muss man also daran erinnern, dass auch der Lebens- und Gesundheitsschutz kein absoluter, unteilbarer Wert ist. Dass gerade in Lebensfragen manchmal Abwägungsprozesse erforderlich sind, wissen wir eigentlich schon aus den Konflikten um die Stammzellforschung oder die Sterbehilfe. Einen politischen Sachzwang erzeugt Expertenwissen aber nur dann, wenn der zugrunde liegende Wert außer Streit steht. Anders gesagt: Nur im Fall weitreichenden Wertekonsenses innerhalb der Bevölkerung kann sich die Politik aufs Administrieren beschränken. Dies haben wir in der Coronakrise – unter dem Eindruck der dramatischen Bilder aus der Lombardei – in den ersten Wochen erlebt.
Abwegige Idee
Seither hat sich eine weitläufige Debatte über die Verhältnismäßigkeit der politischen Maßnahmen entwickelt, die letztlich durch widerstreitende Interessen, Erwartungen, Werte und Weltbilder angetrieben wird. Die Idee, wir sollten uns einer autoritären Herrschaft unterwerfen, in der die Wissenschaft das Sagen hat, ist daher ziemlich abwegig. Politische Konflikte lassen sich nicht in die typisch wissenschaftliche Wahr/ Falsch-Logik übersetzen. Der richtige Umgang mit dem Coronavirus ist eine politische Streitfrage, die sich nicht allein durch Rekurs auf die Virologie beantworten lässt – schon allein deshalb nicht, weil auch die Fachleute, siehe oben, nicht mit einer Stimme sprechen. Und außerdem bedarf eine kluge Politik nicht nur fundierten Wissens, sondern auch der redlichen Abwägung konkurrierender normativer Standpunkte.
Keine gute Nachricht für Verschwörungstheoretiker: Weder leben wir in einer Corona-Diktatur, noch brauchen wir eine.
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