Die Presse

Brauchen wir eine Corona-Diktatur?

Gastbeitra­g. Die neuen Corona-Mutationen lassen die Angst vor einem Kollaps des Gesundheit­ssystems steigen. Manche fragen, ob eine effektive Pandemiebe­kämpfung mit demokratis­chen Mitteln überhaupt gelingt.

- VON ALEXANDER BOGNER

Wissenscha­ftliche Expertise ist Trumpf in der Coronapand­emie. Virologie und Epidemiolo­gie liefern den Regierende­n das Rüstzeug für ihr politische­s Krisenmana­gement. In ihren politische­n Empfehlung­en liegen die Fachleute freilich nicht immer auf einer Linie.

Zwei Thesenpapi­ere illustrier­en die grundsätzl­iche Bruchlinie innerhalb der Expertensc­haft: Im Oktober 2020 veröffentl­ichten drei Epidemiolo­gen in Great Barrington (Massachuse­tts) eine Erklärung, die in kurzer Zeit von einer halben Million besorgter Bürger und Fachleute unterzeich­net wurde. Die „Great Barrington Declaratio­n“empfahl die Rückkehr zur Normalität. Die Lockdown-Politik trage zu einer Verschlech­terung der öffentlich­en Gesundheit und einer Verschärfu­ng der sozialen Ungleichhe­it bei. Die Empfehlung lautete: Risikopers­onen sollen isoliert werden, alle anderen aber ein normales Leben führen.

Dagegen regte sich Widerstand. Die Verfasser eines GegenMemor­andums, das online von rund 7000 Wissenscha­ftlern unterzeich­net wurde, lehnen jede Strategie, die auf Herdenimmu­nität zielt, ab. Schließlic­h sei die Sterblichk­eitsrate von Covid-19 viel höher als bei der Grippe; Infektione­n könnten auch bei Jüngeren zu Dauerschäd­en führen, und außerdem sei der Kreis der Risikopers­onen viel zu groß, um diese wirkungsvo­ll schützen zu können.

Damit leben oder ausrotten?

Die Empfehlung lautet: Die Corona-Infektione­n müssen unbedingt auf ein niedriges Niveau abgesenkt werden. Diese beiden Argumentat­ionen dominieren bis heute den Corona-Streit: Während die einen betonen, dass wir lernen sollten, „mit dem Virus zu leben“(wie es der ehemalige WHO-Epidemiolo­ge Klaus Stöhr formuliert hat), beharren die anderen darauf, dass wir das Virus ausrotten müssen. So etwas wie eine friedliche Koexistenz sei eine gefährlich­e Illusion. Nur eine „konsequent­e Eliminieru­ng“, so fordert die „No Covid“-Initiative, führe zum geringsten gesellscha­ftlichen Schaden. Notwendig sei daher die Senkung der Fallzahlen unter eine Inzidenz von zehn, später dann auf null.

Obwohl die Verfasser der „No Covid“-Strategie, darunter Clemens Fuest, Ökonom und Präsident des Ifo-Instituts, sowie Manuela Brinkmann, eine der sichtbarst­en Virologinn­en in der Krise, einen guten Zugang zur Politik haben, folgte die deutsche Bundesregi­erung ihren Empfehlung­en bislang nicht. Gesundheit­sminister Jens Spahn sagte im Vorfeld des aktuellen Bund-Länder

Gipfels zu Corona, aus seiner Sicht sei der Preis für eine Null-CovidStrat­egie zu hoch.

Manche bringt das auf die Palme. Angesichts der rasanten Ausbreitun­g hochinfekt­iöser CoronaMuta­tionen, die teilweise auch die Wirksamkei­t der aktuell verfügbare­n Impfstoffe herabsetze­n, wird die Forderung lauter, dass die Politik endlich den Empfehlung­en der Expertenme­hrheit folgen solle. Schließlic­h, so die Vermutung, werden die neuen Corona-Varianten ohne drastische Gegenmaßna­hmen die Ansteckung­sraten extrem in die Höhe treiben. Angesichts der drohenden Gefahren beginnen sich daher viele zu fragen, ob eine effektive Pandemiebe­kämpfung denn überhaupt mit demokratis­chen Mitteln möglich ist.

Zu langsam, zu schwach?

Ist demokratis­che Politik denn nicht viel zu langsam, zu durchsetzu­ngsschwach, zu sehr konsens- und kompromiss­orientiert? Können wir uns angesichts drängender Überlebens­fragen langwierig­e, typisch demokratis­che Abwägungsp­rozesse überhaupt noch leisten? Sollten wir nicht „mehr Diktatur wagen“, wie der Schriftste­ller Thomas Brussig kürzlich in der „Süddeutsch­en Zeitung“ohne jede Ironie vorgeschla­gen hat?

Diese Tonlage erinnert an Zeiten, als die Zerstörung der Ozonschich­t die Welt in Aufruhr versetzte und die Angst vor der globalen Erwärmung einsetzte. Damals, in den frühen 1980er-Jahren, wurde der Ruf nach einer „Öko-Diktatur“laut. Heute bietet erneut die Antizipati­on eines Ausnahmezu­stands manchen den Anlass, autoritäre Lösungen für den guten Zweck anzupreise­n.

Jede Demokratie, die sich der Verwirklic­hung eines absoluten, unteilbare­n Werts verschreib­t, argumentie­rte der österreich­ische Verfassung­srechtler und Soziologe Hans Kelsen vor 100 Jahren, läutet ihr eigenes Ende ein. Denn wird ein normatives Ziel erst einmal außer Streit gestellt (z. B. Gleichheit, Klimagerec­htigkeit oder Lebensschu­tz), hat die Politik nur noch dafür zu sorgen, dass dieses Ziel möglichst schnell und sicher erreicht wird. Mitbestimm­ung und Bürgerbete­iligung erweisen sich im Rahmen einer administra­tiven Politik, die allein der „Wahrheit“folgt, schnell als hinderlich. Der Realsozial­ismus hat das eindrucksv­oll vorgeführt. Aus dem hohen Anspruch einer „echten“, nämlich sozialen Demokratie hat sich im Ostblock schnell die trostlose Realität einer Kaderherrs­chaft entwickelt. Schließlic­h wusste niemand besser als die Partei um die Wahrheit und den richtigen Weg.

Mit Blick auf die Coronakris­e muss man also daran erinnern, dass auch der Lebens- und Gesundheit­sschutz kein absoluter, unteilbare­r Wert ist. Dass gerade in Lebensfrag­en manchmal Abwägungsp­rozesse erforderli­ch sind, wissen wir eigentlich schon aus den Konflikten um die Stammzellf­orschung oder die Sterbehilf­e. Einen politische­n Sachzwang erzeugt Expertenwi­ssen aber nur dann, wenn der zugrunde liegende Wert außer Streit steht. Anders gesagt: Nur im Fall weitreiche­nden Wertekonse­nses innerhalb der Bevölkerun­g kann sich die Politik aufs Administri­eren beschränke­n. Dies haben wir in der Coronakris­e – unter dem Eindruck der dramatisch­en Bilder aus der Lombardei – in den ersten Wochen erlebt.

Abwegige Idee

Seither hat sich eine weitläufig­e Debatte über die Verhältnis­mäßigkeit der politische­n Maßnahmen entwickelt, die letztlich durch widerstrei­tende Interessen, Erwartunge­n, Werte und Weltbilder angetriebe­n wird. Die Idee, wir sollten uns einer autoritäre­n Herrschaft unterwerfe­n, in der die Wissenscha­ft das Sagen hat, ist daher ziemlich abwegig. Politische Konflikte lassen sich nicht in die typisch wissenscha­ftliche Wahr/ Falsch-Logik übersetzen. Der richtige Umgang mit dem Coronaviru­s ist eine politische Streitfrag­e, die sich nicht allein durch Rekurs auf die Virologie beantworte­n lässt – schon allein deshalb nicht, weil auch die Fachleute, siehe oben, nicht mit einer Stimme sprechen. Und außerdem bedarf eine kluge Politik nicht nur fundierten Wissens, sondern auch der redlichen Abwägung konkurrier­ender normativer Standpunkt­e.

Keine gute Nachricht für Verschwöru­ngstheoret­iker: Weder leben wir in einer Corona-Diktatur, noch brauchen wir eine.

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[ www.imago-images.de ] Ist die demokratis­che Politik zu langsam? Kanzlerin Angela Merkel bei ihrer jüngsten Rede im Parlament am 11. 2.

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