Frauen leiden anders, Männer auch
Sozialmedizin. Eine Studie zeigt, dass hohe Arbeitsanforderungen im Beruf später mit eingeschränkter Mobilität und Depression einhergehen. Frauen zeigen öfter Beschwerden.
Er ist 35 Jahre alt, 80 Kilo schwer, weiß und männlich. So beschrieb die Wiener Gendermedizinerin Alexandra Kautzky-Willer einmal das Modell des typischen Patienten, an dem sich die Medizin lang orientierte, um Krankheiten zu beurteilen und zu behandeln. Die Gendermedizin oder geschlechtsspezifische Medizin weist mittlerweile auf die unterschiedlichen körperlichen Voraussetzungen und Bedürfnisse hin – und berücksichtigt sie. Wissenschaftler der Med-Uni Graz untersuchten im Forschungsprojekt „Folgen negativer Arbeitsbedingungen für die Gesundheit im späteren Leben: Geschlechtsunterschiede“, wie Frauen und Männer auf viel Arbeit reagieren.
„Die Längsschnittdaten zeigen, dass eine hohe Arbeitsbelastung nach zehn Jahren generell eher zu
Einschränkungen der physischen Mobilität und zu depressiven Symptomen führt“, sagt der Sozialmediziner Wolfgang Freidl. Jedoch: Die Wahrscheinlichkeit für beides sei bei Frauen generell deutlich höher, das Risiko, im Alter eine Depression zu entwickeln, gar doppelt so hoch wie bei Männern.
Wertschätzung hilft
Das ergab eine Sekundäranalyse von Daten des „Survey of Health, Ageing and Retirement in Europe“, der – länderübergreifend – Angaben von über 50-Jährigen zu Gesundheit und Altern umfasst. Menschen aus Österreich, Deutschland, Schweden, Spanien, Italien, Frankreich, Dänemark, Griechenland und Belgien beteiligten sich daran zweimal, dazwischen lagen zehn Jahre. „Die meisten Studien setzen den Fokus bisher auf einen bestimmten Zeitpunkt. Uns interessierte, ob es über einen längeren
Zeitraum betrachtet Geschlechterunterschiede gibt“, erklärt Freidl, der das kürzlich abgeschlossene, von der Oesterreichischen Nationalbank geförderte Projekt leitete.
Neben den Auswirkungen der hohen Arbeitsbelastung einte beide Geschlechter das Bedürfnis nach Wertschätzung im Job: Wer sie erfährt, erlebt im Alter eine höhere Lebensqualität – und weniger Depressionen. Für Männer war außerdem die Kontrolle, also etwa das Ausmaß an Autonomie sowie die Entwicklungsmöglichkeiten, für die spätere physische und psychische Gesundheit wichtig.
Auch eine gute Nachricht lässt sich aus einer weiteren Analyse ableiten, die Freidl durchführte: Wer in einer guten Verfassung war und einen besseren sozioökonomischen Hintergrund aufwies, also etwa ein höheres Bildungsniveau und einen höheren beruflichen Status hatte, fühlte sich zehn Jahre später subjektiv gesünder und hatte auch einen kräftigen Griff – ein Indikator für physische Gesundheit. Selbst viel Arbeit schadete diesen Personen nicht. Ein auch für den Forscher überraschendes Ergebnis. „Ein guter Allgemeinzustand schützt uns also für die Zukunft“, sagt er. Dieser Effekt zeigte sich bei Frauen etwas stärker als bei Männern.
Arbeitsplätze anpassen
Aus der Interpretation der Ergebnisse lassen sich also Chancen für persönliche Präventionsmaßnahmen, aber auch für die betriebliche Gesundheitsvorsorge ableiten: „Man müsste eine eigene Schiene erfinden, um die Bedürfnisse von Frauen in der Arbeitswelt besser zu berücksichtigen“, sagt Freidl, selbst Mitglied im wissenschaftlichen Beirat des Fonds Gesundes Österreich.
Außerdem sollten Firmen versuchen, Arbeitsplätze für Frauen passender zu gestalten. „Depression ist auch Ausdruck fehlender Handlungsmöglichkeiten. Frauen brauchen machtvollere Arbeitsplätze, bei denen sie aktiv mitgestalten können.“Die Studie zeigte zudem, dass Frauen ihr Gehalt als weniger angemessen empfinden. Überdies seien sie in ihren Lebenssituationen häufig mehrfach belastet, so der Forscher.
Sein Idealismus treibt ihn jedenfalls bei der wissenschaftlichen Arbeit an: Gesundheitliche Gerechtigkeit für benachteiligte oder besonders belastete Bevölkerungsgruppen sei ihm schon als Student ein Anliegen gewesen, sagt der heutige Vorstand des Instituts für Sozialmedizin und Epidemiologie der Med-Uni Graz.