Von Baku nach Berlin
In meiner Familie wechselte man die Sprachen, Länder und Alphabete mehrmals, manchmal sogar innerhalb von wenigen Jahren oder ohne überhaupt die eigene Wohnung zu verlassen. Über die Lebenswirklichkeit von A-, B- und C-Sprachen.
Im Jahr 1996 bin ich im Alter von elf Jahren mit meiner Familie aus Aserbaidschan nach Deutschland ausgewandert. Von da an wurde ich auf Deutsch sozialisiert, sodass ich das Deutsche heute um einiges besser beherrsche als meine russische „Muttersprache“. Die Muttersprache meiner Kinder ist Deutsch, auch wenn ich mit ihnen Russisch spreche und mein Mann Arabisch. Mit meinem Mann spreche ich Englisch – so fühlen wir uns am wohlsten. Er ist 2013 aus Syrien nach Deutschland gekommen, und auch in der Geschichte seiner Familie spielt Mehrsprachigkeit eine große Rolle – wie wahrscheinlich in sehr vielen Familien auf dieser Welt. Wir haben jedenfalls keine gemeinsame Familiensprache mehr und sind damit bei Weitem keine Ausnahme.
Sprachenwechsel und Migration haben in meiner Familie in jeder Generation stattgefunden, wenn auch die Migration nicht immer freiwillig war. Meine Großmutter floh vor der Shoah, fast ihre gesamte Familie wurde von den Deutschen ermordet, und schon die Generationen vor ihr waren vor antisemitischen Pogromen im Ansiedlungsrayon des Russischen Kaiserreiches nach Aserbaidschan geflohen. Die Muttersprache meiner Großmutter war Jiddisch, sie sprach zudem Russisch, und nach ihrer Flucht von Weißrussland nach Aserbaidschan lernte sie Azeri, wenn auch nicht sehr gut.
Meine Mutter und mein Vater wurden in eine mehrsprachige Gesellschaft hineingeboren, sprachen jedoch überwiegend Russisch und nur bescheiden Aserbaidschanisch. Baku war zu der Zeit eine multikulturelle Stadt: Auf den Straßen hörte man Russisch, Aserbaidschanisch, Georgisch, Awarisch, Armenisch, Persisch, Griechisch und viele andere Sprachen.
Die Muttersprache meiner Mutter war Russisch und nicht mehr Jiddisch. Machtverhältnisse und Nationalismus spiegeln sich stets in der Sprache wider. Genauso wie die jeweils herrschenden Diskurse und
Ideologien. Man kann sich noch heute in den entlegensten Dörfern im Kaukasus oder in Zentralasien auf Russisch verständigen, allerdings ist dies dem Umstand geschuldet, dass Russisch nicht nur eine wunderschöne, sondern auch eine imperiale Sprache ist. Die Dominanz der russischen Sprache in Baku war insofern politisch gewollt.
Wir sprachen die Sprache des Imperiums, und das war damals genug. Aserbaidschanisch umgab mich jeden Tag, in den Wohnungen der Nachbarschaft oder unserer Freunde, auf der Straße und in der Schule. Dort besuchte ich eine russischsprachige Klasse. Aserbaidschanisch wurde zwar von der ersten Klasse an unterrichtet, allerdings nicht sonderlich gut – wie alle Sprachen in der UdSSR. Auch das war politisch gewollt. Neben russischsprachigen Klassen wie meiner gab es auch andere, in denen nur auf Aserbaidschanisch unterrichtet wurde – in der Regel waren das zwei getrennte Welten. Die Klassen, die auf Russisch unterrichtet wurden, waren privilegiert. Die Kinder, die sie besuchten, stammten aus sozial etwas gehobeneren Schichten und hatten Eltern mit deutlich höheren Bildungsabschlüssen. Russisch war in der gesamten Sowjetunion die dominante Bildungs- und Kommunikationssprache. Viele aserbaidschanischsprachige Familien fingen im Laufe der Zeit an, ebenfalls untereinander Russisch zu sprechen. Obwohl die Sowjetunion eine klassenlose Gesellschaft sein sollte, zeigte der Abstand, den nicht-russischsprachige Muttersprachler zu der eigenen Herkunftssprache und Kultur gewonnen hatten, auch die eigene soziale Klasse an – je mehr und akzentfreier man also Russisch sprach, desto eher gehörte man der „Intelligenzija“an. Russisch wurde mit Kultur gleichgesetzt. Alles Nationale war dagegen eher verpönt, zumindest alles, was nicht russisch war. Selbst das aserbaidschanische Alphabet wurde zum Bauernopfer der Politik und gleich mehrmals geändert: Die seit dem Mittelalter verwendeten arabischen Schriftzeichen wurden 1929 durch die lateinische Schrift abgelöst. Dieser folgte schon 1938 die kyrillische Schrift, ehe man 1991/92 zur lateinischen Schreibweise zurückkehrte. Drei Alphabete in hundert Jahren bedeuten leider auch, dass viele alte Bücher und Dokumente aus den Archiven und Bibliotheken von einem Großteil der heutigen Bevölkerung nicht mehr gelesen werden könnten.
Sprache ist nicht statisch, Familiensprachen und Muttersprachen können sich ändern, ob als Folge von Migration, Vertreibung und Kriegen oder einer Liebe wegen. Selbst im hohen Alter ist ein Sprachwechsel möglich. In meiner Familie wechselte man die Sprachen, Länder und Alphabete mehrmals, manchmal sogar innerhalb von wenigen Jahren und ohne überhaupt die eigene Wohnung zu verlassen. Familiengeschichten, Erinnerungen und Menschen gingen dabei verloren, manche Erinnerungen wurden willentlich ausgelöscht, andere konnten gerettet und weitergegeben werden. Dass ausgerechnet Deutsch die erste Sprache meiner Kinder werden würde, ist nicht frei von historischer Ironie.
Bei all dem kann ich meine Texte ausschließlich auf Deutsch schreiben. Deutsch ist die einzige Sprache, in der ich mir über alle Konnotationen eines einzelnen Wortes bewusst bin, in der ich weiß, ob es sich um eine politische oder popkulturelle Anspielung handelt. Mein Russisch ist im Vergleich dazu „eingerostet“– ich habe die letzten zwanzig Jahre der Sprachentwicklung verpasst, und Russisch hat sich in diesen Jahrzehnten extrem gewandelt. Viele Begriffe sind in der Zeit aus dem Englischen entlehnt worden, Neologismen hinzugekommen. Manche sind mir bis heute unbekannt. Ich habe zwar einiges aufgeholt, aber es fühlt sich längst nicht so „natürlich“an, wie dieselben Begriffe auf Deutsch oder Englisch zu verwenden. Selbst wenn ich russische Belletristik lese, muss ich ab und zu ein Wort nachschlagen, vor allem wenn es sich um Slang handelt. Allerdings ist der russische Slang eine eigene Kunstform. Ich bin also mehrsprachig im Alltag und monolingual beim Schreiben: Aber weshalb kann ich mich dennoch nicht als Muttersprachlerin im Deutschen bezeichnen? Mittlerweile
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Aserbaidschanisch umgab mich jeden Tag, in den Wohnungen der Nachbarschaft oder unserer Freunde, auf der Straße, in der Schule.