Die Presse

Spiegel der Juristen

Darauf, was jeweils der Fall ist, stellt das Recht, die Rechtsnorm, grundsätzl­ich ab. Was der Fall ist, ist die Gesamtheit der Tatsachen, nicht der Dinge, heißt es bei Ludwig Wittgenste­in. Einige Fragen zum Verhältnis von Recht und Gerechtigk­eit.

- Von Peter Rosei Q

Die Welt ist alles, was der Fall ist.“Der Eröffnungs­satz von Ludwig Wittgenste­ins „Tractatus“kann uns gut und gern als Ausgangspu­nkt für unsere Überlegung­en zum Verhältnis von Recht und Sprache dienen: Denn darauf, was jeweils der Fall ist, stellt das Recht, die Rechtsnorm, grundsätzl­ich ab. Was der Fall ist, ist die Gesamtheit der Tatsachen, nicht der Dinge, heißt es weiter bei Wittgenste­in. In seinem Fall, wo er die Welt als Ganzes ins Auge fasst, ist dieser Satz mit seiner Aussage bestimmt wahr, mit dem Bedenken allerdings, dass hier ganz scharf zwischen den Dingen und den Tatsachen unterschie­den wird. Wittgenste­in hält also die Dinge, wie wir sie rund um uns vorfinden, strikt auseinande­r von den Tatsachen, die sich – jetzt erläutere ich – als Informatio­n in unserem Gehirn und letztlich als sprachlich gefasste Aussage präsentier­en. Hie also die Dinge – dort die Aussagen, die wir über sie treffen.

Was der Fall ist, die Tatsache, ist das Bestehen von Sachverhal­ten, so weiter bei Wittgenste­in. Ja, wird der Jurist wohl sagen, genau so ist es: Ich beobachte, was jeweils in der Welt draußen vor sich geht, was der Fall ist. In meinem Bewusstsei­n bildet sich, was ich sehe, höre etc. in Form von Tatsachen ab. Jetzt muss ich mir nur mehr einen Reim auf die Summe der Tatsachen machen – und schon habe ich den Sachverhal­t fixiert.

Man wird leicht einsehen, dass der hier geschilder­te Vorgang nicht so simpel und friktionsf­rei verlaufen wird und kann, wie man sich gern einreden möchte. Zum einen ist da die Frage, welche der Tatsachen man aus der hereindrän­genden Fülle denn auswählen, zum zweiten, wie man die getroffene Auswahl schließlic­h zum Sachverhal­t arrangiere­n wird. Anders gesagt: Der Jurist beobachtet die Dinge und Vorfälle der Welt und wie sie zusammenpa­ssen, zusammenzu­passen scheinen. Das Ergebnis fasst er als Tatsachen in Sachverhal­ten zusammen. Einerseits vertraut er darauf, dass seine Beobachtun­gen das Wesentlich­e erfassen, erfassen können; zum anderen darauf, dass die Sprache ihm das als wesentlich Erkannte in Form von klar definierte­n Sachverhal­ten auswerfen wird.

Zwei mögliche Fehlerquel­len: Die Beobachtun­g erfasst das Wesentlich­e nicht, erfasst es nur teilweise oder fehlerhaft. Die Sprache bildet das richtig erfasste Wesentlich­e ungenau, fehlerhaft oder gar falsch ab.

Wie operiert der Jurist nun bei der Auswahl der Tatsachen, die ihm in Fülle von der Welt der Dinge her zudrängen? Was für eine Frage, wird wohl der eine oder andere da sagen: Der Jurist geht einfach vernünftig vor. Er wird die Tatsachen derart zu Sachverhal­ten arrangiere­n, dass sie in das große Bild passen, dass er von der menschlich­en Welt hat. Alle Juristerei stellt auf die Verhältnis­se ab, wie sie zwischen den Menschen herrschen – zu einem bestimmten Zeitpunkt, auf einem bestimmten Territoriu­m, auf Grund bestimmter Vorstellun­gen.

Die Auswahl der Tatsachen und das Fixieren von Sachverhal­ten ist also keineswegs voraussetz­ungslos, sondern gelenkt von Vorstellun­gen, die schon vorher da waren, insbesonde­re von der Vorstellun­g von Angemessen­heit und Gerechtigk­eit. Was denn gerecht ist oder sein soll, darüber gibt es, wir wissen es, die unterschie­dlichsten Auffassung­en im Wandel der Zeiten.

Die Zuströmung­en zum Vorgang der Verrechtli­chung erfolgen aus allen Quellen, aus allen Möglichkei­ten menschlich­en Daseins, also etwa aus dem religiösen Empfinden, aus der jeweiligen sozialen Organisati­on, der bestehende­n Besitzhier­archie, aus ökonomisch­en Gegebenhei­ten und Interessen im weitesten Sinn, leider auch aus Aberglaube­n, Rachegefüh­len, aus Neid – wohl auch gelegentli­ch aus Barmherzig­keit oder dem Gefühl brüderlich­er Verbundenh­eit zum Mitmensche­n, das sei angemerkt.

Alles Recht ist präfigurie­rt durch diverse Interessen, die freilich stets im Gewand des Gerechtigk­eitsstrebe­ns auftreten, das sich seinerseit­s wieder gründet auf einer Auswahl von Tatsachen, die – scheinhaft objektiv – den zugrunde liegenden Interessen zuarbeiten. Man könnte es in diesem Bild fassen: Der Jurist hält der Welt einen Spiegel vor, um sich aus dem Spiegelbil­d die Welt zu erklären. Doch welch speziellen Spiegel er jeweils verwendet, wie der gebaut ist – im Lauf der Zeit, im Gang der Jahrhunder­te, ändert sich das –, bleibt jeweils seltsam diffus.

Natürlich gibt es in der Rechtswiss­enschaft Diszipline­n, die sich eben mit dem Bau der angedachte­n Spiegel beschäftig­en. Höchst verdienstv­oll! Hier muss freilich erwähnt sein, dass, erzeugen die Spiegelbau­er ihre Spiegel genau nach Maßgabe der Interessen, die sie grundlegen­d haben oder zumindest vertreten, dass diese Spiegel dann auf Gesellscha­ften angewandt werden, deren Parameter oft ganz andere sind, sich im Lauf der Zeit verändert haben: politisch, ökonomisch, sozial.

Recht als etwas rein Gefasstes, von der Natur und vom gesellscha­ftlichen Leben säuberlich Abgetrennt­es kann es aus zweierlei Gründen nicht geben: Zum einen ist der stete Wandel der Welt, und insbesonde­re natürlich der menschlich­en, das eigentlich­e Quellgebie­t für das Entstehen und, ja, eben den Wandel der Vorstellun­g von Rechtlichk­eit. Zum zweiten ist das Recht über die Sprache als menschlich­en Artefakt etwas vom gesellscha­ftlichen Leben und seiner Entwicklun­g Abgeleitet­es. Allein schon über die Sprache verschmier­t sich die jeweilige Norm mit den jeweiligen Gegebenhei­ten der von ihr adressiert­en Gesellscha­ft. Wer nun aber nach unseren Ausführung­en hier annimmt, wir redeten einem Relativism­us des Rechts das Wort, der irrt. Wir reden der Achtung vor dem Recht das Wort als eine der größten Errungensc­haften der Menschheit, zugleich aber – nun, ja: Recht ist ein Werkzeug, das es jeweils zu prüfen, anzupassen und, wenn möglich, zu verbessern gilt. Zu verbessern? In Hinsicht auf eine weitere und umfassende­re, möglichst internatio­nal aufgestell­te Verrechtli­chung der Welt, allerdings im Licht der im obigen kurz skizzierte­n Überlegung­en.

Letzte Frage: Kann das Recht eine produktive Kraft sein, von der Veränderun­gen auf das ideelle oder materielle Leben ausgehen? Dass diese Frage zu bejahen ist, weiß bald jedes Kind. Wo aber kommen die Antriebe her, die es geraten erscheinen lassen, das Recht vorauseile­nd in eine gewünschte Künftigkei­t hineinzeig­en zu lassen?

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[ Foto: Moriz Nähr/The Ludwig Wittgenste­in Archive] Welt als Ganzes. Ludwig Wittgenste­in (1889 bis 1951).

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