Spiegel der Juristen
Darauf, was jeweils der Fall ist, stellt das Recht, die Rechtsnorm, grundsätzlich ab. Was der Fall ist, ist die Gesamtheit der Tatsachen, nicht der Dinge, heißt es bei Ludwig Wittgenstein. Einige Fragen zum Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit.
Die Welt ist alles, was der Fall ist.“Der Eröffnungssatz von Ludwig Wittgensteins „Tractatus“kann uns gut und gern als Ausgangspunkt für unsere Überlegungen zum Verhältnis von Recht und Sprache dienen: Denn darauf, was jeweils der Fall ist, stellt das Recht, die Rechtsnorm, grundsätzlich ab. Was der Fall ist, ist die Gesamtheit der Tatsachen, nicht der Dinge, heißt es weiter bei Wittgenstein. In seinem Fall, wo er die Welt als Ganzes ins Auge fasst, ist dieser Satz mit seiner Aussage bestimmt wahr, mit dem Bedenken allerdings, dass hier ganz scharf zwischen den Dingen und den Tatsachen unterschieden wird. Wittgenstein hält also die Dinge, wie wir sie rund um uns vorfinden, strikt auseinander von den Tatsachen, die sich – jetzt erläutere ich – als Information in unserem Gehirn und letztlich als sprachlich gefasste Aussage präsentieren. Hie also die Dinge – dort die Aussagen, die wir über sie treffen.
Was der Fall ist, die Tatsache, ist das Bestehen von Sachverhalten, so weiter bei Wittgenstein. Ja, wird der Jurist wohl sagen, genau so ist es: Ich beobachte, was jeweils in der Welt draußen vor sich geht, was der Fall ist. In meinem Bewusstsein bildet sich, was ich sehe, höre etc. in Form von Tatsachen ab. Jetzt muss ich mir nur mehr einen Reim auf die Summe der Tatsachen machen – und schon habe ich den Sachverhalt fixiert.
Man wird leicht einsehen, dass der hier geschilderte Vorgang nicht so simpel und friktionsfrei verlaufen wird und kann, wie man sich gern einreden möchte. Zum einen ist da die Frage, welche der Tatsachen man aus der hereindrängenden Fülle denn auswählen, zum zweiten, wie man die getroffene Auswahl schließlich zum Sachverhalt arrangieren wird. Anders gesagt: Der Jurist beobachtet die Dinge und Vorfälle der Welt und wie sie zusammenpassen, zusammenzupassen scheinen. Das Ergebnis fasst er als Tatsachen in Sachverhalten zusammen. Einerseits vertraut er darauf, dass seine Beobachtungen das Wesentliche erfassen, erfassen können; zum anderen darauf, dass die Sprache ihm das als wesentlich Erkannte in Form von klar definierten Sachverhalten auswerfen wird.
Zwei mögliche Fehlerquellen: Die Beobachtung erfasst das Wesentliche nicht, erfasst es nur teilweise oder fehlerhaft. Die Sprache bildet das richtig erfasste Wesentliche ungenau, fehlerhaft oder gar falsch ab.
Wie operiert der Jurist nun bei der Auswahl der Tatsachen, die ihm in Fülle von der Welt der Dinge her zudrängen? Was für eine Frage, wird wohl der eine oder andere da sagen: Der Jurist geht einfach vernünftig vor. Er wird die Tatsachen derart zu Sachverhalten arrangieren, dass sie in das große Bild passen, dass er von der menschlichen Welt hat. Alle Juristerei stellt auf die Verhältnisse ab, wie sie zwischen den Menschen herrschen – zu einem bestimmten Zeitpunkt, auf einem bestimmten Territorium, auf Grund bestimmter Vorstellungen.
Die Auswahl der Tatsachen und das Fixieren von Sachverhalten ist also keineswegs voraussetzungslos, sondern gelenkt von Vorstellungen, die schon vorher da waren, insbesondere von der Vorstellung von Angemessenheit und Gerechtigkeit. Was denn gerecht ist oder sein soll, darüber gibt es, wir wissen es, die unterschiedlichsten Auffassungen im Wandel der Zeiten.
Die Zuströmungen zum Vorgang der Verrechtlichung erfolgen aus allen Quellen, aus allen Möglichkeiten menschlichen Daseins, also etwa aus dem religiösen Empfinden, aus der jeweiligen sozialen Organisation, der bestehenden Besitzhierarchie, aus ökonomischen Gegebenheiten und Interessen im weitesten Sinn, leider auch aus Aberglauben, Rachegefühlen, aus Neid – wohl auch gelegentlich aus Barmherzigkeit oder dem Gefühl brüderlicher Verbundenheit zum Mitmenschen, das sei angemerkt.
Alles Recht ist präfiguriert durch diverse Interessen, die freilich stets im Gewand des Gerechtigkeitsstrebens auftreten, das sich seinerseits wieder gründet auf einer Auswahl von Tatsachen, die – scheinhaft objektiv – den zugrunde liegenden Interessen zuarbeiten. Man könnte es in diesem Bild fassen: Der Jurist hält der Welt einen Spiegel vor, um sich aus dem Spiegelbild die Welt zu erklären. Doch welch speziellen Spiegel er jeweils verwendet, wie der gebaut ist – im Lauf der Zeit, im Gang der Jahrhunderte, ändert sich das –, bleibt jeweils seltsam diffus.
Natürlich gibt es in der Rechtswissenschaft Disziplinen, die sich eben mit dem Bau der angedachten Spiegel beschäftigen. Höchst verdienstvoll! Hier muss freilich erwähnt sein, dass, erzeugen die Spiegelbauer ihre Spiegel genau nach Maßgabe der Interessen, die sie grundlegend haben oder zumindest vertreten, dass diese Spiegel dann auf Gesellschaften angewandt werden, deren Parameter oft ganz andere sind, sich im Lauf der Zeit verändert haben: politisch, ökonomisch, sozial.
Recht als etwas rein Gefasstes, von der Natur und vom gesellschaftlichen Leben säuberlich Abgetrenntes kann es aus zweierlei Gründen nicht geben: Zum einen ist der stete Wandel der Welt, und insbesondere natürlich der menschlichen, das eigentliche Quellgebiet für das Entstehen und, ja, eben den Wandel der Vorstellung von Rechtlichkeit. Zum zweiten ist das Recht über die Sprache als menschlichen Artefakt etwas vom gesellschaftlichen Leben und seiner Entwicklung Abgeleitetes. Allein schon über die Sprache verschmiert sich die jeweilige Norm mit den jeweiligen Gegebenheiten der von ihr adressierten Gesellschaft. Wer nun aber nach unseren Ausführungen hier annimmt, wir redeten einem Relativismus des Rechts das Wort, der irrt. Wir reden der Achtung vor dem Recht das Wort als eine der größten Errungenschaften der Menschheit, zugleich aber – nun, ja: Recht ist ein Werkzeug, das es jeweils zu prüfen, anzupassen und, wenn möglich, zu verbessern gilt. Zu verbessern? In Hinsicht auf eine weitere und umfassendere, möglichst international aufgestellte Verrechtlichung der Welt, allerdings im Licht der im obigen kurz skizzierten Überlegungen.
Letzte Frage: Kann das Recht eine produktive Kraft sein, von der Veränderungen auf das ideelle oder materielle Leben ausgehen? Dass diese Frage zu bejahen ist, weiß bald jedes Kind. Wo aber kommen die Antriebe her, die es geraten erscheinen lassen, das Recht vorauseilend in eine gewünschte Künftigkeit hineinzeigen zu lassen?