Fortsetzung von Seite I
kann ich mit dem Konzept der „Muttersprache“nur noch bedingt etwas anfangen. Die in der Translationswissenschaft, der Wissenschaft vom Übersetzen und Dolmetschen, verwendete Einordnung in A-, B- und C-Sprachen leuchtet mir viel mehr ein. Sie ist näher an meiner Lebenswirklichkeit. Die A-Sprache ist demnach die Mutter- oder Erstsprache oder einfach die Sprache, die man am besten beherrscht. In diese übersetzt man entsprechend aus den B- oder C-Sprachen. Die Unterscheidung ist frei von Ideologie und Wertungen und orientiert sich ausschließlich an der Leistung, also daran, wie gut man eine bestimmte Sprache im Verhältnis zu einer anderen beherrscht.
Der Literaturwissenschaftler und Linguist Thomas Paul Bonfiglio veröffentlichte im Jahr 2010 eine bahnbrechende Arbeit, in der er sich kritisch mit dem Begriff native speaker auseinandersetzte. Seiner Ansicht nach handelt es sich um ein rassistisches Konstrukt, das dazu diene, die Machtstrukturen zu erhalten. Bonfiglio führt ein Beispiel an: Eine Sprachschule in Singapur hatte eine Stellenanzeige aufgegeben, in der nach muttersprachlichen Englischlehrern gesucht wurde. Nur zwei Tage später wurde die Anzeige korrigiert und präzisiert. Nun hieß es, die Schule suche zwar nach Muttersprachlern, allerdings nach solchen, die caucasian, also weiß, seien. An diesem Beispiel wird sehr deutlich, dass der Begriff „Muttersprachler“sich nicht ausschließlich auf die jeweilige Sprachkompetenz bezieht, sondern auch durchaus die Herkunft meint. Es kommt also auch durchaus darauf an, wer diese Sprachen spricht.
Noch heute gibt es die Vorstellung, dass jemand nur dann deutscher Muttersprachler sein kann, wenn er oder sie Christine, Sebastian, Annika, Mathilda, Frank oder Sabine heißt – und außerdem weiß ist. Leuten mit Namen wie Özlem, Tatjana, Mohammed oder Sibel werden diese Sprachkenntnisse nicht zugetraut, selbst wenn sie hier geboren und monolingual deutschsprachig aufgewachsen sind. Richard Wagner schrieb in seiner antisemitischen Schrift „Das Judenthum in der Musik“von 1869: „In einer fremden Sprache wahrhaft zu dichten, ist nun bisher selbst den größten Genies noch unmöglich gewesen.“Und der Philosoph und Theologe Schleiermacher behauptete in seiner 1813 gehaltenen Akademierede „Über die verschiedenen Methoden des Übersetzens“, dass jeder Schriftsteller sein Werk nur in seiner Muttersprache verfassen könne. Die Muttersprache wurde allmählich als etwas „Natürliches“hingestellt, die Kultur wiederum als etwas Biologisches und Angeborenes. Demnach wird man in eine und nur in eine Sprache hineingeboren und somit auch in eine Nation, die sich Blut und Boden teilt.
Mir ist es wichtig, dass meine Kinder mehrsprachig aufwachsen. Ich kann mir schlicht nicht vorstellen, wie es wäre, wenn meine Kinder kein Russisch verstehen würden. Würde ich ihnen kein Russisch beibringen, hätte ich das Gefühl, dass ich ihnen einen großen Teil meiner – und auch ihrer – Identität vorenthalte und sie von etwas abschneide, das doch ihnen gehört.
Dennoch: Am 21. Februar 2020, am Morgen nach dem Anschlag von Hanau, bei dem ein Terrorist aus rassistischen Motiven neun Menschen ermordete, bestand ich darauf, meine Kinder in den Kindergarten zu bringen. Im Gegensatz zu meinem Mann würde man mich als Deutsche lesen. An diesem Tag sprach ich mit ihnen Deutsch, kein Russisch – und schämte mich dafür. Q