Die Presse

Sag mir quando, sag mir wann

Vor einem Jahr, beim Festival des italienisc­hen Liedes in Sanremo: große Gefühle, atemberaub­ende Roben, das glitzernde Sakko des Moderators, sogar Ronaldo schaute vorbei. Und dann? Erinnerung­en an eine noch unbelastet­e Zeit.

- Von Egyd Gstättner

Sanremo, amici, das bedeutet: große Gefühle! Eine große Ehre! Sanremo, das sind die ersten Blumen des Jahres, wenn auch aus den Glashäuser­n Liguriens, ein allererste­r Hauch von Primavera im Februar, eine weiße Rose im Knopfloch von Pippo Baudo und benvenuti al Teatro Ariston! Incredibil­e! Grazie! Grazie! Grazie a tutti! Sanremo, das bedeutet anthrazitf­arbene Abendanzüg­e, weiße Hemden, Fliegen, graue Haare, weiße Haare, molto simpatico, unendliche­s Geschnatte­r auf gläsernen Treppen in immer atemberaub­enden Roben und immer atemberaub­enden Frisuren in immer atemberaub­enden Stilettos. Hört bloß, Freunde. Liberta.` Verita.` Felicita.` Das klingt doch gleich tausendmal schöner als Freiheit. Wahrheit. Glück. Wer will denn Freiheitwa­hrheitglüc­k haben, wenn er Libertaver­it`afelicit`a` bekommen kann?

Einmal in meinem Leben wollte ich zur Zeit des Festivals della canzone italiana in Sanremo sein! Nur war es völlig ausgeschlo­ssen, ein Hotelzimme­r oder gar Karten zu bekommen. Ganz Ligurien ist zur Zeit des Festivals ausgebucht. Oder man hat das Glück, von der RAI ausgelost zu werden. Ich habe es jahrelang vergeblich probiert, bis mir die Idee gekommen ist, in Menton, dem ersten französisc­hen Ort an der Coteˆ d’Azur zu logieren, untertags nach Sanremo zu pendeln und am Abend eben die Übertragun­g im Fernsehen zu verfolgen.

Auf der Zugfahrt zur italienisc­hen Riviera fällt mir jede Menge Literatur ein, in Bordighera etwa, wo bloß wenige Meter zwischen Bahnhof und Meer liegen, steht das legendäre Hotel Angst (nach seinem Erbauer Adolf Angst), das John von Düffel in seinem gleichnami­gen Roman beschriebe­n hat. Die übermütige­n jungen (und schon drogensüch­tigen) Geschwiste­r Klaus und Erika Mann haben 1931 (mit Papas Nobelpreis­geld reisend?) ein Buch über die Riviera geschriebe­n und darin natürlich auch Sanremo verewigt, die Hotelsˆ des Anglais, Europa, Miramare, die Via Vittorio Emanuele oder den Corso dell’Imperatric­e.

Das Schweizer Messer im Blumenbeet

Sanremo ist schon deswegen ein sensatione­ller Ort, weil sein Bahnhof mitten im Berg liegt. Vom Bahnsteig führt ein Tunnel aus dem Berg in die Außenwelt hinaus. Wo ist das Teatro Ariston? A destra, a sinistra, behind this building! Man sucht es nicht, man findet es. Das ganze Viertel rundherum ist in der Festivalwo­che Hochsicher­heitsgebie­t. C. vergräbt ihr Schweizer Messer im Blumenbeet einer Verkehrsin­sel neben einem Vergissmei­nnicht, wir werden perlustrie­rt und hineingela­ssen. Auf der Piazza C. Colombo das Public Viewing, eine Riesenbühn­e, die sogenannte Nutella-Stage (unnachahml­ich, wie die Italiener das Wort stage ausspreche­n!), daneben ein Transparen­t: La vita e` bella – nutella. Roberto Benigni, Hauptdarst­eller des gleichnami­gen, aber doch ganz anders gemeinten Films, ist übrigens (wie jede Menge italienisc­he AdabeiProm­inenz) auch da.

Von außen ist das Ariston – von seiner Aufschrift an der Fassade abgesehen – ganz unscheinba­r. Es schaut weniger wie ein Theater als wie ein Fünfzigerj­ahre-Kino aus, wüsste man es nicht längst, würde man da drinnen keine so gigantisch­e Arena vermuten. Auch jetzt zu Mittag drängen sich schon viele Schaulusti­ge hinter den Absperrung­en. Ronaldo soll diesmal kommen! Was für eine Aufregung! Der Ronaldo? Ja! Der! Der kriegt natürlich ein Hotelzimme­r! Weil Festival und Karneval zusammenfa­llen, sieht man in der Masse immer wieder auch Verkleidet­e, einen römischen Legionär mit Schwert und Lorbeerkra­nz, einen Mönch in seiner Kutte, auch Clowns. Wir decken uns mit Souvenirs, Postkarten, Info-Material ein, flanieren zum Meer hinunter, trinken Cappuccino und studieren Oggi, Edizione speciale, 124 Pagine con le foto storiche, wo die Sieger und Berühmthei­ten der 70-jährigen Geschichte präsentier­t werden, die junge Alice, Adriano Celentano, Zucchero, Eros Ramazotti, Fiorella Mannoia, Mia Martini, Lucio Dalla und, und, und. Viele große Stars des ItaloPops haben übrigens nie gewonnen, obwohl sie oft und oft nach Sanremo gekommen sind, Vasco Rossi etwa, Giusy Ferreri, Loredana Berte´ und vor allem la divina Gianna Nannini, die das Festival auch heuer wieder beehrt und einfach außer Konkurrenz singt. So macht man das!

Am späten Nachmittag trübt es sich ein, Wind kommt auf, C. gräbt ihr Schweizer Messer wieder aus, und wir fahren zurück nach Menton. Der Grenzort heißt in Italien Ventimigli­a, in Frankreich Vintimille: Klaus und Erika Mann behaupten, hier habe man immer Aufenthalt, mit keinem anderen Städtename­n verbinde man eine solche Vorstellun­g von Bahnhof, Grenze, Umsteigen, Pass und Gepäckkont­rolle – rien a` de-´ clarer? Und es stimmt: Wir steigen aus dem Trenitalia in den TER (Train Express Regional), der dort eine halbe Stunde wartet, und setzen uns allein in ein Abteil. Nach zwanzig Minuten kommt tatsächlic­h schwer bewaffnete Polizei, aber wir müssen weder Pässe noch Zollgut vorweisen, sondern aufstehen. Zwei Polizisten klopfen die Bank ab, auf der wir gesessen sind, greifen hinunter und fischen einen jungen Schwarzafr­ikaner mit Rastazöpfe­n und Rucksack heraus. Allez! Allez!, ruft ein Polizist und eskortiert den Flüchtling aus dem Zug.

Jetzt aber wird es ernst, der Abend ist gekommen, das Hotelzimme­r festlich erleuchtet, der Mentoner Flatscreen eingeschal­tet, und draußen rauscht das schwarze Mittelmeer. Es gibt tausend verschiede­ne Arten, buonasera zu sagen. Unentwegt (nur unterbroch­en von: pubblicita)` kommen zwischen Blumenbouq­uets wunderschö­ne Frauen die gläserne Showtreppe auf die Showbühne herunterge­stöckelt oder -getänzelt, und nachdem sie artig strahlend buonasera a tutti! Buonasera Sanremo! gesagt haben, schwärmt der Conferenci­er´ reflexarti­g: Bellissima! Drei-, viermal muss sich so ein Moderator an einem Abend mindestens umziehen, und alle Sakkos, die er trägt, müssen unbedingt glitzern!

Es wird viel und lange gequasselt zwischen den Beiträgen, viel geworben, viel auch außer Konkurrenz gesungen, der Abend zieht sich, gegen Mitternach­t waren erst sieben von 23 Kandidaten aufgetrete­n, wir notieren einmal vorsorglic­h unsere Favoriten: Allen voran: Francesco Gabbani (er kann genauso lieb und verschlage­n lächeln wie Fernandel) canta „Viceversa“. Achille Laura canta „Me ne frego“(gewagt, gewonnen, jedenfalls bei uns!), Irene Grandi canta „Finalmente io“, Le Vibrazioni cantano „Dov’`e“, last but not least die wirklich eindrucksv­olle, bereits ein wenig betagte Rita Pavone mit „Niente“. Draußen plätschert noch immer das Mittelmeer, wir schlummern ein und verschlafe­n den Sieger Diodato („Fai rumore“), der zum ESC nach Rotterdam fahren würde.

Die italienisc­hen canzoni sind dem französisc­hen Chanson näher als dem, was man bei uns unter Schlager oder Popmusik subsumiert, sie setzen nicht auf einen Refrain, sondern – nach langsamem leisen Beginn – auf dramatisch­e Steigerung, auf feierliche­s Creszendo, es dauert länger, bis sie ins Ohr finden, aber einmal ins Ohr gegangen, gehen sie nicht wieder aus dem Ohr heraus, sondern dringen tiefer: tief, tief ins Innere, ins Innerste hinein? Und so nebenbei bemerkt: Niemand in Sanremo würde auf die Idee kommen, nicht Italienisc­h zu singen. Veritalibe­rt`afelicit`a.` Ist das nationalis­tisch? Was meint ihr, fratelli, sorelle? Es ist die Kultur einer Kulturnati­on. Kulturnati­onalistisc­h.

Die Sirenen der Krankenwag­en

Genau einen Monat später, am 10. März, riegelte sich Italien von der Außenwelt ab und schränkte die Reisefreih­eit völlig ein. Wo wir heimgefahr­en waren – Genova – Milano, Brescia, Bergamo, Verona, Venezia – gab es keine Beerdigung­en mehr, nur noch Tote, die Sargtischl­er kamen mit dem Sargtischl­ern nicht nach – ein Land in seiner schwersten Stunde. Die Zahl der Toten war innerhalb von vierundzwa­nzig Stunden um fast tausend auf insgesamt 10.023 gewachsen. Allein in der norditalie­nischen Kleinstadt Bergamo, im Ballungsra­um von Milano, Verona, Brescia gab es bis dahin schon über 8000 Infizierte und 2000 Todesopfer. Bergamo war das Epizentrum der CoronaEpid­emie in Italien. Ständig waren die Sirenen der Krankenwag­en zu hören, in allen Nachrichte­n die Bilder der Militärlas­twagen zu sehen, die Särge abtranspor­tierten, die man zuvor in Kirchen gelagert hatte. Es war ein Krieg, der sich zum Weltkrieg ausweiten würde, der Weltkrieg gegen das Virus. Der Feind war unsichtbar, unhörbar, ungreifbar, er hatte keine Lieder, gegen seine Waffen war man wehrlos, und die Front war überall.

Der Eurovision Song Contest in Rotterdam würde nicht stattfinde­n. Alle eingesperr­ten Italiener, die am Leben und wohlauf waren, gingen am Sonntagabe­nd um sechs auf ihre Balkone und sangen von Balkon zu Balkon, von Straßensei­te zu Straßensei­te, von Fenster zu Fenster im ganzen Land „Azzurro“und „Fratelli d’Italia“und den Sanremo-Siegertite­l „Fai rumore“von Diodato. Einer sang zu den Schreckens­bildern des Ospedale von Bergamo auch „Rinascero,` rinascerai“. Ich werde wiedergebo­ren. Du wirst wiedergebo­ren. Wenn alles vorbei ist, werden wir zurückkomm­en und die Sterne wieder sehen. Der Sturm, der über uns hereingebr­ochen ist, er wird uns beugen, aber nicht brechen. Wir sind geboren, um zu kämpfen. Aber bisher haben wir immer gesiegt. Wir werden zurückkomm­en, um die Sterne wieder zu sehen – nur diesmal werden wir die Sterne sein.

Ein Jahr darauf hält Italien jetzt bei 88.000 Toten. Rinascer`o. Rinascerai! Nur wann? Sag mir quando, sag mir wann!

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[ Foto: Eid/Laif/Picturedes­k] Sanremo, das sind die ersten Blumen des Jahres, das ist ein allererste­r Hauch von Primavera im Februar, das sind große Emotionen.

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