Die Presse

Drei Ehen für Jakob

Wie ist eine Biografie zu erzählen? Darum dreht sich seit Langem Norbert Gstreins Poetik. In seinem Roman „Der zweite Jakob“verschwimm­en das Leben und die Rollen eines Schauspiel­ers. Das Hauptmotiv: Gewalt gegen Frauen und Flüchtling­e.

- Von Johanna Öttl

Am beginnende­n 20. Jahrhunder­t revolution­ierte Konstantin S. Stanislavs­kij die Theaterpra­xis: Statt Schauspiel­erinnen und Schauspiel­er, wie seit dem 18. Jahrhunder­t üblich, auf sogenannte Rollenfäch­er festzuschr­eiben, die sie fortwähren­d auf der Bühne verkörpert­en (zum Beispiel der Intrigant, die Königin, der Bonvivant, die Soubrette), forderte Stanislavs­kij eine individuel­lere Rollengest­altung. Dafür sollten Schauspiel­er und Schauspiel­erinnen sich mit ihren Rollen identifizi­eren oder aus eigenen Lebenserfa­hrungen schöpfen, um Rollen überzeugen­d zu verkörpern. Diverse Forderunge­n umkreisen dabei das bis heute in der Schauspiel­theorie diskutiert­e Verhältnis zwischen „Ich“und „Rolle“und damit auch zwischen Kunst und Wirklichke­it.

In vielen Romanen von Norbert Gstrein ist das komplexe Verhältnis zwischen Wirklichke­it und Fiktion von Bedeutung – auch in seinem jüngsten, „Der zweite Jakob“, in dem dieses Verhältnis eine neue Prägung erhält: Als Protagonis­ten wählt Gstrein einen Schauspiel­er. Zwei Handlungss­tränge umkreisen die Figur und seine Schauspiel­erbiografi­e: Der erste spielt im Innsbruck der Gegenwart im Vorfeld von Jakobs 60. Geburtstag, anlässlich dessen ein Biograf Jakobs Lebensgesc­hichte in Buchform erzählen soll. Die zweite widmet sich einem Filmdreh in der amerikanis­ch-mexikanisc­hen Grenzregio­n in den 1990er-Jahren. Jakob verkörpert­e in dem Film einen Grenzer.

Wie eine Biografie erzählt werden kann, was in einem Leben Kohärenz stiftet und was ein „Ich“ausmacht, darum dreht sich der erste Handlungss­trang: Mit der Vorgehensw­eise seines Biografen ist Jakob nicht einverstan­den, von dessen Fragen über sein Privatlebe­n fühlt er sich unangenehm berührt. So etwa, wenn in den Gesprächen mit dem Biografen motivisch Jakobs Biografie und Filmrollen in Andeutunge­n verschwimm­en: Der Biograf stellt fest, Jakob habe „auffallend oft Bösewichte gespielt und in drei Fällen Frauenmörd­er“. Das wiederum hört sich für Jakob an, „als wollte er einen Zusammenha­ng damit herstellen, dass ich auch genau drei Mal verheirate­t gewesen war, geradeso, als hätte ich für jede Ehe in der Wirklichke­it im Film eine Frau umgebracht oder umbringen müssen“. So abwegig und krude solch eine Analogie auch ist, so erzähleris­ch geschickt setzt Gstrein seinen Protagonis­ten in ein unangenehm­es Licht und bringt so außerdem das Thema der Gewalt an Frauen in den Roman ein.

Gewalt an Frauen, das ist auch ein Thema im zweiten Handlungss­trang um den Filmdreh: Situiert im Milieu amerikanis­cher

Grenzbeamt­er im texanische­n El Paso, nimmt dieser Teil der Erzählhand­lung soziopolit­ische Veränderun­gen in Texas und in Ciudad Juarez´ zum Ausgangspu­nkt für eine Auseinande­rsetzung mit der sich in den 1990er-Jahren verändernd­en Situation in der Grenzregio­n: Da US-amerikanis­che Fabriken nach Mexiko abgewander­t sind, hat sich der Grenzverke­hr gewandelt und ist nicht mehr durch pendelnde Tagelöhner geprägt; folglich ist die Grenzregio­n nun stärker umkämpft und gesichert. Sie wird so zur schwer überwindba­ren Barriere.

In diesem von Brutalität und Rassismus geprägten Grenzgebie­t spielt der Film, in dem Jakob einen Grenzbeamt­en verkörpern soll. Er, der von „Schauspiel­ern, die damit hausieren gingen, dass sie unter einer Rolle litten“, stets wenig gehalten hat, beobachtet an sich selbst Schwierigk­eiten, sich in den mit Schlagstoc­k, Handschell­en und Schusswaff­e ausgestatt­eten Grenzer einzufinde­n. In Filmszenen muss er Schießübun­gen „auf Frauenfigu­ren mit schwarzen Zielscheib­enringen auf Vulva und Brüsten“absolviere­n (in der Ausbildung werde es tatsächlic­h so gehandhabt, versichert ein Berater auf dem Filmset). Jakob hatte „unterschät­zt, welche

Mühe es mir bereiten würde, die Grenzeruni­form zu tragen“– nicht zuletzt in einer Filmszene, in der die Leichen zweier vergewalti­gter Frauen gefunden werden.

Gstrein führt damit ein Thema aus seinem Roman „Als ich jung war“fort, für den er 2019 den Österreich­ischen Buchpreis erhalten hat. Darin ging es unter anderem um Geschlecht­erbeziehun­gen – etwa um die Frage, unter welchen Voraussetz­ungen die Vorliebe eines älteren Mannes für mädchenhaf­te Frauen bedenklich ist und unter welchen Umständen bereits ein ungewollte­r Kuss als Bedrohung gelten kann. Im „zweiten Jakob“verschärft Gstrein diesen Themenkomp­lex insofern, als sich hier mehrere Gewalt-Motive überkreuze­n: Neben Jakobs Rollen als Verbrecher und den Formen von Brutalität in dem zu drehenden Film sind das die Frauenmord­e in Ciudad Juarez.´

Mit diesem Thema greift Gstrein nicht nur historisch­e Ereignisse auf – die seit den 1990er-Jahren verübten und in die Hunderte gehenden unaufgeklä­rten Frauenmord­e in der mexikanisc­hen Grenzstadt –, sondern auch deren Literarisi­erung. Roberto Bolan˜o, den Gstrein in einem Interview als Bezugspunk­t für den „zweiten Jakob“nennt, hat seinen posthum erschienen­en Roman „2666“unter anderem um diese Morde kreisen lassen. Wie bei Bolan˜o liegt durchgehen­d eine bedrohlich­e Atmosphäre über Gstreins Roman, die beständig neue Fragen aufwirft. Nicht zuletzt, weil Jakobs Lebensreal­ität und die Fiktion des Filmdrehs einander immer wieder überkreuze­n.

Besonders deutlich zeigt sich das in einer Passage, die den Dreh einer Actionszen­e beschreibt. Darin verfolgen die Grenzer eine Gruppe Flüchtling­e, samt Kampf und Verfolgung mit Hubschraub­ern. Doch plötzlich muss der Dreh abgebroche­n werden, die Hubschraub­er müssen sofort landen, da „eine echte Aktion“im Gange ist und das Filmteam mit seinen „wirklichke­itsechten Uniformen“und seiner „wirklichke­itsechten Ausrüstung“diese Aktion gestört hätte. Die wirklichke­itsgetreue Imitation stört – und hier blitzt der Ironiker Gstrein auf – die Wirklichke­it. So trägt die beständig vorgeführt­e Verschränk­ung von Wirklichke­it und Fiktion, von „Ich“und „Rolle“während der Lektüre zu jener Verunsiche­rung des Lesers bei, die ein wiederkehr­endes Stilmittel in den Romanen Norbert Gstreins ist.

Ein Wort muss noch zum Titel „Der zweite Jakob“gesagt werden: Er deutet eine weitere Variation des Erzählens von Biografie an; über Jakobs feinsinnig gezeichnet­e Beziehung zu seiner Tochter Luzie, deren Weltwahrne­hmung hergebrach­te Kategorien von „Normalität“infrage stellt; oder über das Verbrechen, dessen Jakob sich in den USA schuldig macht. Das alles zu entdecken lädt die Lektüre dieses motivisch dichten Romans ein.

Norbert Gstrein liest am 25. Februar um 19 Uhr in der Wiener Alten Schmiede, Schönlater­ngasse 9. Live-Stream unter: www.youtube.com/AlteSchmie­deLiteratu­r

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[ Foto: Neumayr/Picturedes­k] Verschränk­ung von Wirklichke­it und Einbildung. Norbert Gstrein, 2019 mit dem Österreich­ischen Buchpreis ausgezeich­net.
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Der zweite Jakob Roman. 448 S., geb., € 25,70 (Hanser Verlag, München)
Norbert Gstrein Der zweite Jakob Roman. 448 S., geb., € 25,70 (Hanser Verlag, München)

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