Hustet, stöhnt, krächzt, lacht
Im Kammerton der Vergeblichkeit: Wolfgang Müller-Funks Aufzeichnungen eines Jahres.
Liegt es daran, dass Autoren inzwischen eine längere Lebenserwartung haben? Oder daran, dass das Publizieren leichter geworden ist? Entsteht da ein neues, von älteren Herren dominiertes Genre? Jedenfalls nimmt die Zahl der Bücher zu, die von diesem Kammerton der Vergeblichkeit geprägt sind. Wolfgang Müller-Funks Roman „365 Tage sind kein Jahr“ist zweifellos ein sehr gelungenes Beispiel unter ihnen. Die täglichen Eintragungen des Buches erstrecken sich genau über ein Jahr, manche haben eine Überschrift, und ihre Länge variiert. Am 26. Mai steht nur lapidar: „Heute (k)ein Eintrag.“
Indem der Autor das beschriebene Jahr nicht bezeichnet, erweitert er den Blick vom bloß Aktuellen zum Allgemeingültigen, verwandelt er bloße Tagebucheintragungen in den Roman eines Lebens. Verstärkt wird dieser Ansatz durch digitale Fotografien aus Sabine Müller-Funks Zyklus „Temporäre Umschichtungen“. Vor Beginn jedes Monats präsentiert sie auf schwarzem Hintergrund immer anders geschichtete Föhrennadeln als sehr reduzierte Bilder der Vergänglichkeit.
Ähnlich zurückhaltend die Prosa von Wolfgang Müller-Funk. Der 1954 geborene Kulturphilosoph, Literaturtheoretiker, ehemalige Professor an den Universitäten Wien und Birmingham und außerdem Essayist und Lyriker hält sich an die Themen des Genres wie zum Beispiel das Herannahen des Todes. Am 15. Dezember schreibt er: „Der Körper hustet, krächzt, schmerzt, stöhnt und lacht. Er ist das Fremdeste in unmittelbarer Nähe.“Diese Hinfälligkeit wird aber relativiert durch ein Behagen am Haus und vor allem die Freuden und Früchte des Gartens: Am 24. Oktober heißt es: „Paradeiser, Melanzani, Äpfel, aufgeblasene Schönheitsköniginnen . . .“
In diesem Jahr ist Müller-Funk auch viel gereist: Augsburg, Istrien, die Biennale von Venedig, Lissabon, Rom und New York, von dem er manchmal etwas schemenhafte Eindrücke liefert.
Niemand als Feind benötigen
Gerade diese Zurückhaltung macht die Qualität des Textes aus. Dieses Buch ist keines dieser gefürchteten Beispiele für Altersgeschwätzigkeit. Müller-Funk stellt keine Begegnungen mit Berühmtheiten oder gar Eroberungen aus, präsentiert wenig Lesefrüchte (Auster, Carlos William Carlos, Nadas),´ und statt sich explizit über Politik zu äußern, bleibt er ganz bei sich. Es finden sich aber auch klassische, beinah erzen klingende Einträge wie am 20. April: „Die letzte Utopie. Niemanden als Feind zu benötigen, um leben zu können.“
Über all dem zieht die Entwicklung seiner Sexualität einen dezenten Bogen. In der ersten Eintragung vom 25. Juli heißt es „„Nach dem Regen, üppig und tiefrot die Schamlippen der herabgefallenen Mohnblüten auf dem Weg in den Garten.“Und in der letzten, ein Jahr später am 24. Juli: „Schamlippen sind das Zärtlichste auf dieser Welt.“
Alle Beispiele dieses Genres stellen den Leser vor die Frage, wie er es mit der Lektüre halten soll: alles der Reihe nach? Sporadisch, immer wieder? Oder kreuz und quer? Müller-Funk löst das Problem automatisch mit seiner eleganten Prosa und zurückgenommenen Haltung. Indem er die eigene Person nur allmählich und schattenhaft preisgibt, wird die Lektüre zum spannenden Abenteuer, einen anderen, sich, kennenzulernen.