Hundert rote Schuhe
Berlin ein sicherer Hafen, Tel Aviv hitzig, sexy und gefährlich. So stellen sich für die Protagonistin in Mirna Funks Roman „Zwischen Du und Ich“ihre beiden Heimatstädte dar. Und dann lernt sie in der israelischen Metropole Noam kennen – und damit das gew
In „A Tale of Two Cities“stellt der große britische Romancier Charles Dickens London und Paris einander gegenüber. London wirkt in Dickens’ historischem Roman wie ein sicherer Hafen gegenüber dem von der französischen Revolution gebeutelten Paris. London wird zwar nicht wirklich als eine ideale Stadt geschildert, aber sie ist immerhin eine ohne Guillotine und ohne Köpferollen.
In Mirna Funks Roman „Zwischen Du und Ich“ist Berlin der sichere Hafen und Tel Aviv wild, ungebändigt und außer Rand und Band. Berlin ist jedoch auch das ehemalige Zentrum des Nazi-Regimes. Damit ist die deutsche Hauptstadt eigentlich ein Ort des Schreckens für die jüdische Schriftstellerin und ihre ebenfalls jüdische Protagonistin, während Tel Aviv der Hafen sein sollte, wo Juden Sicherheit in einem eigenen Land finden wollten. In Tel Aviv werden jetzt mit dem System Iron Dome Hamas-Raketen am Himmel zerschmettert. Die 1981 in Ostberlin geborene Mirna Funk hat das in Tel Aviv erlebt, denn sie pendelt zwischen den beiden Städten und nennt als ihre eigentliche Heimat das Flugzeug, das sie hin und her bringt.
Los geht Mirna Funks Roman in Berlin, in einem klar abgezirkelten geografischen Bereich: Im Stadtteil Mitte, und zwar im Scheunenviertel, wo die Neue Synagoge an der Oranienburger Straße für 3200 Betende erbaut wurde und zum Mittelpunkt des jüdischen Lebens der rund 150.000 Berliner Juden in den 1920er-Jahren avancierte. In der Reichspogromnacht wurde die Neue Synagoge 1938 in Brand gesteckt, 1943 wurde sie durch Bomben zerstört.
Ein Stolperstein vorm Haus
In ebendiesem Scheunenviertel im Schatten der Neuen Synagoge lebt und arbeitet zu Beginn des Romans dessen Heldin Nike. Sie wohnt in jenem Haus, vor dem ein Stolperstein für ihre Urgroßmutter Dora im Gehsteig eingelassen ist. Anfangs weiß Nike wenig über ihre Urgroßmutter, nur dass diese 1941 irgendwo in Frankreich ums Leben gekommen ist.
Nike arbeitet für den DAAD, den Deutschen Akademischen Austauschdienst, sie hat ein bequemes Leben und bekommt durch ihren Job eine Chance: In Tel Aviv kann sie eingesetzt werden, sie soll dort eine Konferenz vorbereiten. Das bedeutet für Nike zunächst einmal, sich aus ihrem Schneckenhaus herauszuwagen. Warum sich Nike in ein Schneckenhaus zurückgezogen hat, das wird im Laufe der Romanhandlung mittels Rückblenden erzählt.
Der Roman ist aus zwei Perspektiven verfasst, jene von Nike und die von Noam. In Tel Aviv begegnet Nike Noam, er entdeckt sie auf ihren Streifzügen durch die Stadt, sucht sie auf Instagram, und los geht die Love Story zwischen der fest in den Institutionen verwurzelten Nike und dem mit seinem Laptop durch Lokale streifenden Noam, der sich durch seine Halsstarrigkeit um seinen prestigeträchtigen Job als Kolumnist der Zeitung „Haaretz“bringt. Die Begegnungen der beiden und wie sie zunächst auf behutsame Art auch körperlich zueinanderfinden, das erzählt Mirna Funk glaubwürdig und mit viel Lokalkolorit. Tel Aviv kennt die Autorin, und sie weiß den Charme der verfallenden Bauhaus-Schönheit am östlichen Mittelmeerstrand zu schätzen und schreibend zu vermitteln.
Israelischer Alltag wird greifbar, das helle Licht der Weißen Stadt, deren Name Frühlingshügel bedeutet, und deren Geschichte untrennbar mit den Jeckes, den deutschsprachigen, nach Palästina geflüchteten Juden, verbunden ist. Tel Aviv ist hitzig, sexy und sinnlich, Mirna Funk bringt das rüber. Sie schreibt flott, und ihre Entfaltung der Geschichten von Noam und Nike ist geschickt konstruiert. Worum geht es in der Liebesgeschichte der beiden? Um Vergangenheit, Vertreibung und Gewalt.
Doch die Gewalt, die ist nicht nur in der grässlichen Geschichte von Nikes Urgroßmutter in Frankreich zu finden, sondern auch in der Kindheit Noams in Israel. Beide Protagonisten sind Verwundete, und sie versuchen in ihrer Begegnung über ihre Verletzungen hinwegzukommen. Gemeinsam fahren sie nach Jerusalem, wo Noam aufwuchs, und wo Nike in der Holocaust Gedenkstätte Yad Vashem erfährt, welches Gewalttrauma sie aus ihrer Familiengeschichte mit sich trägt.
Mirna Funk ist stylish und brillant. Sie ist eine Vaterjüdin, denn eigentlich wird das Jüdischsein matrilinear weitergegeben. In der deutschen Ausgabe der „Vogue“veröffentlicht Funk eine monatliche Kolumne, „Jüdisch heute“, und seit Kurzem spricht sie auch im Podcast „2021jlid“über jüdisches Leben in Deutschland.
Wunsch nach dem Tod der Zeitzeugen
Wenn davon die Rede ist, dass jetzt gerade die letzten Holocaust-Überlebenden sterben, dann konstatiert die Autorin ein „befremdliches Verständnis von Geschichte“, und sie meint, „der insgeheime Wunsch nach dem Tod aller Zeitzeugen wird nicht erfüllt werden. Diesen Gefallen werden die Juden den Deutschen nicht tun.“Denn die Erinnerung hält Mirna Funk hoch.
Gleichzeitig deutsch und jüdisch zu sein, das wirkt als ein Paradoxon. Nike hält die typisch deutschen Eigenschaft von Gründlichkeit und Effizienz hoch, aber sie lebt auch die jüdische Kultur mit all ihrer Feinsinnigkeit, Sinnlichkeit und ihren Widersprüchen. „Berlin und Tel Aviv sind meine Heimatstädte“, sagt Mirna Funk, „sie stehen für Wärme und Kälte, für Ordnung und Chaos, sie sind sehr gegensätzlich.“Die beiden Romanfiguren verkörpern ihre jeweilige Stadt: Nike steht für Berlin, Noam für Tel Aviv.
Mirna Funk und ihre Heldin Nike hegen keine Verachtung für die Männer, die ihnen wehgetan haben, sondern sie bringen Verständnis für sie auf. Gewalt gegen Frauen ist ein zentrales Thema im Roman. Auf ihrem ersten Weg zur Arbeit in Tel Aviv sieht Nike hunderte rote Frauenschuhe am Habima Square. Spontan stellt sie ihre eigenen roten Schuhe dazu und kauft sich neue weiße. Als Nike selbst Gewalt angetan wird, ruft sie ihre Freundinnen zu Hilfe. Die bringen die Wohnung in Ordnung, wiegen Nike tröstend in den Armen, und dann gehen alle frühstücken ins Casino Sanremo. Das Meer wird zur Mikwe (rituelle Waschung), wenn Nike und ihre Freundinnen nackt am Strand ins Wasser gehen, um die Episode wegzuwaschen.
„Zwischen Du und Ich“ist eines jener Bücher, die man kurz vor dem Ende weglegt; man will einfach nicht weiterlesen, um nicht den Kontakt abreißen zu lassen zu der Welt, die das Buch aufspannt, und zu ihren Protagonisten. Mirna Funk erzählt von dem, was sie kennt und weiß. Sie bringt zusammen, was zusammengehört: Berlin und Tel Aviv. Die Autorin erzählt, dass es das Schönste für sie ist, mit einem Glas Chablis am Strand zu sitzen und in ihrer Vorstellung zu erleben, was ihre Romanfiguren bewegt, bevor sie es zu Papier bringt. Wir wünschen der Autorin noch viele Gläser Chablis am Strand von Tel Aviv – und uns noch viele Mirna-Funk-Romane.