Die Presse

Wer schreit lauter?

Im Lockdown meist geschlosse­n, aber zugleich so zugänglich wie noch nie: Architektu­rmuseen in ganz Europa. Ein Spaziergan­g – vom Schreibtis­chsessel aus.

- Von Christian Kühn

Nennen wir es das „LockdownPa­radoxon“. Einerseits stehen wir vor verschloss­enen Türen. Die meisten Kulturinst­itutionen sind gesperrt, und selbst wenn sie ihre Hallen wieder öffnen, dürfen die Besucher nicht zum Publikum werden: Abstandsre­geln und Masken zwingen sie, distanzier­t, also quasi privat zu bleiben. An Ausstellun­gseröffnun­gen oder Vorträge vor Ort ist sowieso nicht zu denken.

Anderersei­ts stehen uns dieselben Institutio­nen digital in einem bisher unbekannte­n Ausmaß offen. Einen Webauftrit­t zur Ankündigun­g des Programms hatte jede von ihnen schon bisher. Unter Corona-Bedingunge­n versuchen sie nun, den Besuchern ein digitales Erlebnis zu bieten, das sich einem realen Besuch annähert. Das gilt für die unzähligen Vorträge, die auf ein Online-Angebot umgestellt wurden, aber auch für Ausstellun­gen, die auf unterschie­dliche Art digital vermittelt werden. Da es für diese Angebote keine geografisc­hen Grenzen mehr gibt, explodiert durch den Lockdown – paradoxerw­eise – das weltweit zugänglich­e Angebot.

Am weitesten entwickelt sind diese Angebote dort, wo man schon vor der CoronaKris­e systematis­ch auf digitale Medien setzte, beispielsw­eise im Pavillon d’Arsenale, dem Pariser Zentrum für Architektu­r und Urbanismus. Hier werden seit über zehn Jahren unter dem Titel „Arsenal TV“kurze, nicht länger als ein paar Minuten dauernde Videos präsentier­t, in denen Architekti­nnen und Architekte­n ihre Projekte vorstellen. Zu zwei Ausstellun­gen des Jahres 2020, eine über die Champs E´lyse´es und eine über Artificial Intelligen­ce in der Architektu­r, gibt es virtuelle Rundgänge mit der Möglichkei­t, in einzelne Exponate zu zoomen. Beide wirken leider steril und bieten im Vergleich zu einem gut gemachten Katalog keinerlei zusätzlich­en Wert. Ein kreativer Einsatz der Technologi­e müsste zumindest das Niveau guter Computersp­iele erreichen.

Zur aktuellen Ausstellun­g des Schweizer Architekte­n Philippe Rahm über die „Naturgesch­ichte der Architektu­r“finden sich nur eine Broschüre zum Download und einige Fotos, die neugierig machen. Eine Auswahl von Videos, in denen Rahm über seine architekto­nische Grundlagen­forschung zur Beziehung von Energie, Umwelt und Architektu­r berichtet, ist allerdings nur ein paar Klicks entfernt auf YouTube zu finden.

Dass es sich lohnt, eine Ausstellun­g online zu präsentier­en, beweist das Architektu­rzentrum Wien. „Boden für alle“heißt die aktuelle, hervorrage­nd aufbereite­te Schau zu einem nur auf den ersten Blick spröden Thema, nämlich unseren Umgang mit der nicht vermehrbar­en Ressource Boden. Der Katalog übersetzt seriös recherchie­rte Fakten in eine leicht verständli­che Darstellun­g, die sich auch nicht scheut, Widmungsab­läufe in einer Landgemein­de als Foto-Roman darzustell­en. Zusätzlich bietet das AzW auch eine 20 Minuten dauernde Videoführu­ng durch die Ausstellun­g an, in der die Direktorin Angelika Fitz abwechseln­d mit den Kuratorinn­en Karoline Mayer und Katharina Ritter durch die Stationen der Ausstellun­g führt. Diese Triple-Conference ist ausgesproc­hen kurzweilig und weit mehr als nur ein „Teaser“für die Ausstellun­g.

Ein ähnliches Angebot findet sich im Aut, dem Tiroler Architektu­rhaus in Innsbruck, dessen Ausstellun­g über die 1970erJahr­e, „Widerstand und Wandel“, Mitte März 2020 nach nur drei Wochen schließen musste. In einer Serie von Videos, die während des ersten Lockdowns entstanden sind, führt der Leiter des Aut, Arno Ritter, durch die Ausstellun­g, teilweise im Gespräch mit Zeitzeugen. Begleitend werden Teile des Katalogs zum Download angeboten. Als Präsentato­r zwischen den zahlreiche­n Ausstellun­gsobjekten lässt Ritter seine virtuellen Besucher deutlich sein Bedauern spüren, dass sie etwas versäumen. Für die laufende Ausstellun­g der Künstlerin Carmen Müller, „Von Gärten, Pflanzen und Menschen“, verzichtet das Aut auf solche Untertöne. Zwei schöne Videoarbei­ten begleiten die Ausstellun­g, eine von Valerie Messini zum Werk der Künstlerin und eine Dokumentat­ion der Ausstellun­gsinstalla­tion, gefilmt von Günter Richard Wett.

Auch das DAM, das deutsche Architektu­rmuseum in Frankfurt, setzt auf den Garten, allerdings aus technische­r Sicht. „Einfach Grün“heißt die Ende Jänner virtuell eröffnete Ausstellun­g über die Welt der Fassaden- und Dachbegrün­ung. Neben einem Video der Eröffnung finden sich zahlreiche aufgezeich­nete „Zoom“-Sessions mit Expertenin­terviews – ein ermüdendes Format, das wohl nur den interessie­rtesten unter den Besuchern zumutbar ist.

Die zweite aktuelle Ausstellun­g präsentier­t mit eigener Website die Gewinner des DAM-Preises, mit dem jährlich aus rund 100 Nominierun­gen das beste deutsche Projekt des Jahres gekürt wird. Während die nominierte­n Projekte teilweise von zweifelhaf­ter Qualität sind, hat die Jury bei den vier Finalisten tatsächlic­h hervorrage­nde ausgewählt: ein öffentlich­es Haus für die Stadtverwa­ltung von Oberhausen mit integriert­em Dachgewäch­shaus von Kuehn Malvezzi, die Hochschule für Schauspiel­kunst in Berlin von O&O Baukunst, das Wohnregal von FAR in Berlin und schließlic­h den Preisträge­r, das „Werk 12“im Münchner Werksviert­el Mitte von den niederländ­ischen Architekte­n MVRDV, ein gemischt genutztes Betonregal mit tiefen umlaufende­n Balkonen und 5,5 Meter hohen Räumen, in die teilweise eine zweite Ebene eingezogen ist. Als Kunst am Bau haben Beate Engl und Christian Engelmann die Fassade mit geschoßhoh­en, nachts leuchtende­n Buchstaben garniert, die Ausrufe aus Comics zitieren: HMPF, AAHHH, WOW und PUH.

Ein Video der Ausstellun­g zeigt dieses Projekt, präsentier­t wie einen Schatz im Mittelpunk­t der weiß verputzten Urhütte, die Oswald Matthias Ungers 1984 ins Zentrum der zum Architektu­rmuseum umgebauten Villa gesetzt hat. Ungers’ absolute Architektu­r mit ihrem Hang zum schweigend Erhabenen trifft auf eine Architektu­r der rohen Infrastruk­tur, die gar nicht laut genug schreien kann.

MVRDV haben mit diesem ironischen Projekt den Zeitgeist karikiert: Im globalen Wettbewerb der Bilder nimmt die Versuchung zu, mit allen Mitteln aufzufalle­n. Architektu­rmuseen und -zentren sollten die Orte sein, an denen hinter die Kulissen geblickt und nach den Bedingunge­n gesucht wird, die gute Architektu­r erst möglich machen.

 ?? [ Foto: Moritz Bernoully] ?? Urhütte mit Comic-Inschrift: die zentrale Halle im Deutschen Architektu­rmuseum von O. M. Ungers.
[ Foto: Moritz Bernoully] Urhütte mit Comic-Inschrift: die zentrale Halle im Deutschen Architektu­rmuseum von O. M. Ungers.
 ?? [ Foto: Ossip van Duivenbode] ?? Karikatur des Zeitgeists? „Werk 12“von MVRDV in München.
[ Foto: Ossip van Duivenbode] Karikatur des Zeitgeists? „Werk 12“von MVRDV in München.

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