Waldesstille, nur der Kolkrabe funkt
Zusammengewachsen, von Politik und Aktualitäten wieder getrennt. Wenn Corona hinter uns liegt, gehen wir im Bayerischen, im Böhmischen Wald über die Grenze. Und mit yetigroßen Schritten durch den Schnee.
Dem Ende des Kalten Krieges folgte die Wiederentdeckung Mitteleuropas. Der Eiserne Vorhang hatte jahrhundertealte Verbindungen gekappt und einst belebte Regionen im Herzen des Kontinents zur Peripherie verkümmern lassen. So auch im Böhmerwald, zu dem der Bayerische Wald geografisch gehört. Mittlerweile nähern sich die getrennten Sphären wieder einander an. Im Sommer sind es die Wanderwege, im Winter die Loipen, die dieses steinalte Gebirge im Dreiländereck von Deutschland, Tschechien und Österreich zusammenzurren, die uns eine Ahnung geben vom Austausch, der hier früher normal war, dann aber bei Todesstrafe verboten.
Wären da nicht Corona und die staatlichen Isolationsmaßnahmen, könnte man hier in Begleitung zweier Waldführer auf Skiern eine Grenzerfahrung der besonderen Art machen. Wer will, kann zum Aufwärmen eine Runde auf der Dreikönigsloipe drehen, einer der klassischen Routen am Ostrand des Nationalparks. Langlauf ist Bewegungsmeditation: stilles Gleiten durch tief verschneiten Märchenwald, im Wechsel mit stoischem Steigen und rauschhafter Beschleunigung. Einmal führt die Spur zwischen übereinandergestapelten Granitfelsen dahin, einmal an einem Bach entlang, der sich durch pralle Schneepolster schlängelt. Die Bäume stehen wie unter Zuckerwatte. Tierspuren queren den Weg – von Baummardern und Hasen. Und stößt man gar auf eine Kette tellergroßer Stapfen, so hat ein Luchs dort sein Revier. Drüben in der Sumava,ˇ dem tschechischen Teil des Böhmerwaldes, kann es auch zu Begegnungen der dritten Art kommen – wenn unvermutet ein Elch an der Loipe steht.
Von Finsterau aus führt die Langlaufwanderung dann hinüber nach – ja, wohin? Bis in die 1930er hätte es auf Deutsch geheißen: hinüber nach Buchwald, und auf Tschechisch nach Bucina.ˇ Oder ins benachbarte Fürstenhut/Kn´ızecˇ´ı Plan´e.ˇ Buchwald zählte damals rund 350 Einwohner, Fürstenhut über 500. Doch von beiden Orten ist so gut wie nichts geblieben. Wie rund 100 Böhmerwalddörfer entlang der Grenze wurden sie in den 1950ern dem Erdboden gleichgemacht. Den vertriebenen deutschstämmigen Bewohnern sollte die Rückkehr unmöglich gemacht werden, den verbliebenen tschechischen die Flucht. Nur die Keller sind noch da. Auch die meisten Friedhöfe wurden eingeebnet; in Fürstenhut blieben zumindest Reste erhalten, die nach der Wende wieder freigelegt wurden. Wo die Kirche stand, markiert ein wuchtiges Kreuz die Leerstelle.
Verschwundene Dörfer
Es ist eine schaurig-schöne Tour, den Gipfel des Lusen zur Linken, die Quelle der Moldau zur Rechten. Schaurig, weil sie vor Augen führt, wie die Politik sich hier in all ihrer Selbstsucht, Bösartigkeit und Ignoranz über die Topografie ebenso hinweggesetzt hat wie über die Kultur, indem sie acht Jahrhunderten gemeinsamer Geschichte den Garaus gemacht hat. Schön, weil sie etwas Verwunschenes und Romantisches hat, weil die tschechische Seite eben wegen der rabiaten Entvölkerung noch wehmütiger, noch einsamer wirkt als die deutsche. Die alten Rodungen sind weitgehend zugewachsen, doch hie und da zeugen Steinmauern mitten im Wald, frei stehende Hutebäume oder Alleen im Nirgendwo noch von dieser erzwungenen Wandlung zur Wildnis.
Fotografien aus der Vorkriegszeit zeigen eine parkartig offene Kulturlandschaft, die noch ausschließlich mit Nutztieren und in händischer Arbeit bewirtschaftet wurde. Welcher Kontrast zu den martialischen Grenzanlagen aus dem Kalten Krieg, von denen neben dem neuen Hotel Alpenblick ein kurzer Abschnitt nachgebaut worden ist, mit Wachturm, Straßensperren und Hochspannungszaun. Wer hier aufwuchs, kann sich noch an die Sprengung des Fürstenhuter Kirchturms erinnern.
Das alte Hotel stammte aus den Pioniertagen des Fremdenverkehrs. Schon um 1830 kamen Ausflügler bis von Wien, um im Panorama zu schwelgen. Tatsächlich bieten sich gerade im Winter Fernblicke wie im Märchen. Sanft verebben die mehr als sieben Berge des Bayerischen Waldes, dann schwebt ein Nebelband über dem Donautal, und scheinbar unmittelbar dahinter zieht sich die alpine Skyline vom Dachstein bis zum Watzmann hin.
Die beiden Gebirge korrespondieren miteinander, der Veteran aus dem Erdaltertum mit den jungen Wilden. Wartet nur ab, spricht er zu ihnen. Denn vor 300 Millionen Jahren ragte der Böhmerwald ebenso hoch auf wie die Alpen heute. Sie können sich also auf einiges gefasst machen. Sie dürften allmählich sanfter werden, weicher – und stiller. So still wie der Böhmerwald heute. Wo sich Rücken an Rücken reiht, so dass er selbst von seinen höchsten Punkten aus nie ganz zu überblicken ist. Wo der Wald die Hänge wie ein Zottelfell vermummt. Wo noch der nichtigste Laut zur Sensation wird.
Stifter im Schneesturm
Diese Stille hat keiner so eindringlich geschildert wie Adalbert Stifter, der den Zauber seiner Heimat durch sein ganzes, oft schmerzlich-schwermütiges Leben hindurch beschworen hat. Heute kann er bei der Rückgewinnung des gemeinsamen Kulturerbes gute Dienste leisten. Er wuchs in Oberplan am Nordhang des Gebirges auf, tschechisch Horn´ı Plana.´ In Oberösterreich hat er gewirkt, und die Ferien hat er am liebsten im Bayerischen Wald verbracht, im Rosenberger Gut in der Gemeinde Neureichenau, die ihm ein kleines, poetisches Museum gewidmet hat. Zu seiner Zeit war der Böhmerwald ein Ganzes. Ob ihre Ortschaft in Bayern, in Österreich oder in Böhmen lag – die Bauern hatten untereinander mehr gemeinsam als mit den Bewohnern ihrer jeweiligen Hauptstädte München, Wien oder Prag.
Eine seiner eindrucksvollsten Erzählungen schildert einen dreitägigen Schneesturm im Bayerischen Wald. „Das war kein Schneien wie sonst, sondern wie wenn Mehl vom Himmel geleert würde, strömte ein weißer Fall nieder, er strömte aber auch wieder empor, er strömte von links gegen rechts, von rechts gegen links, und dieses Flimmern und Flirren und Wirbeln dauerte fort und fort und fort.“Tatsächlich ist der Winter eine Domäne des Bayerischen Waldes. In den Statistiken hängt er Alpenregionen regelmäßig ab, sowohl bei den kältesten Temperaturen wie bei der Dauer der Schneebedeckung. Was früher ein Manko war, gerät dem Standort heute zum Vorteil: Schneesicherheit und über 100 Tage Skisaison. Noch Mitte März prunken die höheren Lagen oft mit anderthalb Metern Schnee. So ist er denn auch die Destination der Wahl für Schnee-Enthusiasten, die ein wollüstiges Verhältnis zur Kälte besitzen, für Skifahrer, denen der Zirkus auf die Nerven geht, für Allergiker, die Niesattacken noch hinauszögern wollen.
Das wilde Herz
Wald- und Wildhüter, neudeutsch Ranger, streifen durch den Wald. Mancher kennt die Wälder rund um den Falkenstein noch aus der Zeit, als sie dem Forstamt Zwiesel unterstanden. 1997 wurden sie dann dem Nationalpark einverleibt, die Angestellten des Forstamtes gleich mit. Im Winter unternehmen sie Patrouillengänge auf Schneeschuhen. Etwa hinauf zum Lindberger Schachten; mitunter schließen sich Leute an. Breitbeinig stapfen sie mit Schuhgröße 114 dahin, jeder ein Yeti. Früher geschah die meiste Waldarbeit im Winter, das Holz kam per Schlitten ins Tal, eine anstrengende, gefährliche Arbeit, doch immer noch leichter als im Sommer. Mit der Schneeschmelze wurde das Holz dann über die Bäche bis Regensburg und Passau geschwemmt.
Heute wird nichts mehr aus dem Nationalpark entnommen. Was stirbt, bleibt stehen, was fällt, bleibt liegen. Der Schneedruck hat viele Bäume zum Bersten gebracht. Mächtige Äste, ja ganze Kronen liegen kreuz und quer im Wald. Nach anderthalb Stunden öffnet sich eine große, lang gezogene Lichtung. Ein Schachten, wie die einstigen Waldweiden heißen, auf die das Vieh über Jahrhunderte hinweg getrieben wurde. Durch Beweidung mit Rotem Höhenvieh versucht man, zumindest einige davon zu erhalten. Knorrige Buchen und Ahornbäume ragen als Schemen aus der weißen Weite. Durch die Luft hallt der Funkverkehr der Kolkraben, die um die Wipfel kreisen. Wieder reicht die Sicht bis zu den Alpen. Es liegt etwas wohltuend Wehmütiges und zugleich Befreiendes in diesem Fernblick. Man inhaliert ihn regelrecht. Schon Stifter befand: „Auf Höhen war mir wohler.“
Der Lindberger Schachten ist leicht zugänglich, die meisten anderen liegen viel tiefer drin im Gebirge. Die Waldhirten, die hier lebten, waren besondere Leute, an Einsamkeit und Stille gewöhnt. Heute sind die Schachten legendäre Wanderziele, sommers wie winters. Manche tragen geheimnisvolle Namen wie Luchsplatzl oder Verlorener Schachten. Wer sie nach stundenlangem Marsch durch dichte Wälder erreicht, glaubt wirklich, am Ende der Welt angelangt zu sein. Hier führen auch keine Wege hinüber nach Tschechien. Einer aber doch, ein schmaler, kaum bekannter Steig. Er trägt den Namen „Wildes Herz“. Wo, wenn nicht hier, wäre die Mitte Mitteleuropas zu suchen?