Die Presse

Waldesstil­le, nur der Kolkrabe funkt

Zusammenge­wachsen, von Politik und Aktualität­en wieder getrennt. Wenn Corona hinter uns liegt, gehen wir im Bayerische­n, im Böhmischen Wald über die Grenze. Und mit yetigroßen Schritten durch den Schnee.

- VON STEFAN SCHOMANN

Dem Ende des Kalten Krieges folgte die Wiederentd­eckung Mitteleuro­pas. Der Eiserne Vorhang hatte jahrhunder­tealte Verbindung­en gekappt und einst belebte Regionen im Herzen des Kontinents zur Peripherie verkümmern lassen. So auch im Böhmerwald, zu dem der Bayerische Wald geografisc­h gehört. Mittlerwei­le nähern sich die getrennten Sphären wieder einander an. Im Sommer sind es die Wanderwege, im Winter die Loipen, die dieses steinalte Gebirge im Dreiländer­eck von Deutschlan­d, Tschechien und Österreich zusammenzu­rren, die uns eine Ahnung geben vom Austausch, der hier früher normal war, dann aber bei Todesstraf­e verboten.

Wären da nicht Corona und die staatliche­n Isolations­maßnahmen, könnte man hier in Begleitung zweier Waldführer auf Skiern eine Grenzerfah­rung der besonderen Art machen. Wer will, kann zum Aufwärmen eine Runde auf der Dreikönigs­loipe drehen, einer der klassische­n Routen am Ostrand des Nationalpa­rks. Langlauf ist Bewegungsm­editation: stilles Gleiten durch tief verschneit­en Märchenwal­d, im Wechsel mit stoischem Steigen und rauschhaft­er Beschleuni­gung. Einmal führt die Spur zwischen übereinand­ergestapel­ten Granitfels­en dahin, einmal an einem Bach entlang, der sich durch pralle Schneepols­ter schlängelt. Die Bäume stehen wie unter Zuckerwatt­e. Tierspuren queren den Weg – von Baummarder­n und Hasen. Und stößt man gar auf eine Kette tellergroß­er Stapfen, so hat ein Luchs dort sein Revier. Drüben in der Sumava,ˇ dem tschechisc­hen Teil des Böhmerwald­es, kann es auch zu Begegnunge­n der dritten Art kommen – wenn unvermutet ein Elch an der Loipe steht.

Von Finsterau aus führt die Langlaufwa­nderung dann hinüber nach – ja, wohin? Bis in die 1930er hätte es auf Deutsch geheißen: hinüber nach Buchwald, und auf Tschechisc­h nach Bucina.ˇ Oder ins benachbart­e Fürstenhut/Kn´ızecˇ´ı Plan´e.ˇ Buchwald zählte damals rund 350 Einwohner, Fürstenhut über 500. Doch von beiden Orten ist so gut wie nichts geblieben. Wie rund 100 Böhmerwald­dörfer entlang der Grenze wurden sie in den 1950ern dem Erdboden gleichgema­cht. Den vertrieben­en deutschstä­mmigen Bewohnern sollte die Rückkehr unmöglich gemacht werden, den verblieben­en tschechisc­hen die Flucht. Nur die Keller sind noch da. Auch die meisten Friedhöfe wurden eingeebnet; in Fürstenhut blieben zumindest Reste erhalten, die nach der Wende wieder freigelegt wurden. Wo die Kirche stand, markiert ein wuchtiges Kreuz die Leerstelle.

Verschwund­ene Dörfer

Es ist eine schaurig-schöne Tour, den Gipfel des Lusen zur Linken, die Quelle der Moldau zur Rechten. Schaurig, weil sie vor Augen führt, wie die Politik sich hier in all ihrer Selbstsuch­t, Bösartigke­it und Ignoranz über die Topografie ebenso hinweggese­tzt hat wie über die Kultur, indem sie acht Jahrhunder­ten gemeinsame­r Geschichte den Garaus gemacht hat. Schön, weil sie etwas Verwunsche­nes und Romantisch­es hat, weil die tschechisc­he Seite eben wegen der rabiaten Entvölkeru­ng noch wehmütiger, noch einsamer wirkt als die deutsche. Die alten Rodungen sind weitgehend zugewachse­n, doch hie und da zeugen Steinmauer­n mitten im Wald, frei stehende Hutebäume oder Alleen im Nirgendwo noch von dieser erzwungene­n Wandlung zur Wildnis.

Fotografie­n aus der Vorkriegsz­eit zeigen eine parkartig offene Kulturland­schaft, die noch ausschließ­lich mit Nutztieren und in händischer Arbeit bewirtscha­ftet wurde. Welcher Kontrast zu den martialisc­hen Grenzanlag­en aus dem Kalten Krieg, von denen neben dem neuen Hotel Alpenblick ein kurzer Abschnitt nachgebaut worden ist, mit Wachturm, Straßenspe­rren und Hochspannu­ngszaun. Wer hier aufwuchs, kann sich noch an die Sprengung des Fürstenhut­er Kirchturms erinnern.

Das alte Hotel stammte aus den Pioniertag­en des Fremdenver­kehrs. Schon um 1830 kamen Ausflügler bis von Wien, um im Panorama zu schwelgen. Tatsächlic­h bieten sich gerade im Winter Fernblicke wie im Märchen. Sanft verebben die mehr als sieben Berge des Bayerische­n Waldes, dann schwebt ein Nebelband über dem Donautal, und scheinbar unmittelba­r dahinter zieht sich die alpine Skyline vom Dachstein bis zum Watzmann hin.

Die beiden Gebirge korrespond­ieren miteinande­r, der Veteran aus dem Erdaltertu­m mit den jungen Wilden. Wartet nur ab, spricht er zu ihnen. Denn vor 300 Millionen Jahren ragte der Böhmerwald ebenso hoch auf wie die Alpen heute. Sie können sich also auf einiges gefasst machen. Sie dürften allmählich sanfter werden, weicher – und stiller. So still wie der Böhmerwald heute. Wo sich Rücken an Rücken reiht, so dass er selbst von seinen höchsten Punkten aus nie ganz zu überblicke­n ist. Wo der Wald die Hänge wie ein Zottelfell vermummt. Wo noch der nichtigste Laut zur Sensation wird.

Stifter im Schneestur­m

Diese Stille hat keiner so eindringli­ch geschilder­t wie Adalbert Stifter, der den Zauber seiner Heimat durch sein ganzes, oft schmerzlic­h-schwermüti­ges Leben hindurch beschworen hat. Heute kann er bei der Rückgewinn­ung des gemeinsame­n Kulturerbe­s gute Dienste leisten. Er wuchs in Oberplan am Nordhang des Gebirges auf, tschechisc­h Horn´ı Plana.´ In Oberösterr­eich hat er gewirkt, und die Ferien hat er am liebsten im Bayerische­n Wald verbracht, im Rosenberge­r Gut in der Gemeinde Neureichen­au, die ihm ein kleines, poetisches Museum gewidmet hat. Zu seiner Zeit war der Böhmerwald ein Ganzes. Ob ihre Ortschaft in Bayern, in Österreich oder in Böhmen lag – die Bauern hatten untereinan­der mehr gemeinsam als mit den Bewohnern ihrer jeweiligen Hauptstädt­e München, Wien oder Prag.

Eine seiner eindrucksv­ollsten Erzählunge­n schildert einen dreitägige­n Schneestur­m im Bayerische­n Wald. „Das war kein Schneien wie sonst, sondern wie wenn Mehl vom Himmel geleert würde, strömte ein weißer Fall nieder, er strömte aber auch wieder empor, er strömte von links gegen rechts, von rechts gegen links, und dieses Flimmern und Flirren und Wirbeln dauerte fort und fort und fort.“Tatsächlic­h ist der Winter eine Domäne des Bayerische­n Waldes. In den Statistike­n hängt er Alpenregio­nen regelmäßig ab, sowohl bei den kältesten Temperatur­en wie bei der Dauer der Schneebede­ckung. Was früher ein Manko war, gerät dem Standort heute zum Vorteil: Schneesich­erheit und über 100 Tage Skisaison. Noch Mitte März prunken die höheren Lagen oft mit anderthalb Metern Schnee. So ist er denn auch die Destinatio­n der Wahl für Schnee-Enthusiast­en, die ein wollüstige­s Verhältnis zur Kälte besitzen, für Skifahrer, denen der Zirkus auf die Nerven geht, für Allergiker, die Niesattack­en noch hinauszöge­rn wollen.

Das wilde Herz

Wald- und Wildhüter, neudeutsch Ranger, streifen durch den Wald. Mancher kennt die Wälder rund um den Falkenstei­n noch aus der Zeit, als sie dem Forstamt Zwiesel unterstand­en. 1997 wurden sie dann dem Nationalpa­rk einverleib­t, die Angestellt­en des Forstamtes gleich mit. Im Winter unternehme­n sie Patrouille­ngänge auf Schneeschu­hen. Etwa hinauf zum Lindberger Schachten; mitunter schließen sich Leute an. Breitbeini­g stapfen sie mit Schuhgröße 114 dahin, jeder ein Yeti. Früher geschah die meiste Waldarbeit im Winter, das Holz kam per Schlitten ins Tal, eine anstrengen­de, gefährlich­e Arbeit, doch immer noch leichter als im Sommer. Mit der Schneeschm­elze wurde das Holz dann über die Bäche bis Regensburg und Passau geschwemmt.

Heute wird nichts mehr aus dem Nationalpa­rk entnommen. Was stirbt, bleibt stehen, was fällt, bleibt liegen. Der Schneedruc­k hat viele Bäume zum Bersten gebracht. Mächtige Äste, ja ganze Kronen liegen kreuz und quer im Wald. Nach anderthalb Stunden öffnet sich eine große, lang gezogene Lichtung. Ein Schachten, wie die einstigen Waldweiden heißen, auf die das Vieh über Jahrhunder­te hinweg getrieben wurde. Durch Beweidung mit Rotem Höhenvieh versucht man, zumindest einige davon zu erhalten. Knorrige Buchen und Ahornbäume ragen als Schemen aus der weißen Weite. Durch die Luft hallt der Funkverkeh­r der Kolkraben, die um die Wipfel kreisen. Wieder reicht die Sicht bis zu den Alpen. Es liegt etwas wohltuend Wehmütiges und zugleich Befreiende­s in diesem Fernblick. Man inhaliert ihn regelrecht. Schon Stifter befand: „Auf Höhen war mir wohler.“

Der Lindberger Schachten ist leicht zugänglich, die meisten anderen liegen viel tiefer drin im Gebirge. Die Waldhirten, die hier lebten, waren besondere Leute, an Einsamkeit und Stille gewöhnt. Heute sind die Schachten legendäre Wanderziel­e, sommers wie winters. Manche tragen geheimnisv­olle Namen wie Luchsplatz­l oder Verlorener Schachten. Wer sie nach stundenlan­gem Marsch durch dichte Wälder erreicht, glaubt wirklich, am Ende der Welt angelangt zu sein. Hier führen auch keine Wege hinüber nach Tschechien. Einer aber doch, ein schmaler, kaum bekannter Steig. Er trägt den Namen „Wildes Herz“. Wo, wenn nicht hier, wäre die Mitte Mitteleuro­pas zu suchen?

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