Die Presse

Von Trotzki bis Khashoggi: Wenn Regime töten lassen

Repression. Autokratie­n und Diktaturen kennen bei der Verfolgung ihrer politische­n Gegner keinerlei Grenzen, zeigt ein neuer Bericht.

- VON BURKHARD BISCHOF

An einem sonnigen Augusttag im Sommer 1940 betritt ein Mann in einem Regenmante­l eine Villa in Coyoacan´ am Südrand von Mexiko-Stadt. Frank Jacson wird ins Arbeitszim­mer des Hausherrn geleitet, der seinen Besucher bereits erwartet. Jacson legt ihm ein Manuskript vor, das sich der Hausherr bereit erklärt hat zu lesen. Als er sich darüber beugt, holt Jacson einen Eispickel unter dem Mantel hervor und rammt ihn dem Lesenden 7,5 Zentimeter in den Schädel. Leo Trotzki erliegt einen Tag später, am 21. August, seinen schweren Verletzung­en.

Frank Jacson heißt in Wahrheit Ramon´ Mercader und ist ein spanischer Agent des sowjetisch­en Geheimdien­stes NKWD. Der kann damit nach jahrelange­n Nachstellu­ngen einen prioritäre­n Auftrag von Diktator Josef Stalin endlich abhaken: Stalins Todfeind Leo Trotzki ist erledigt.

Trotzkis Ermordung gehört zu den bekanntest­en politische­n Auftragsmo­rden der Geschichte. Immer wieder stellten und stellen diktatoris­che und autokratis­che Regime eigenen Landsleute­n nach, die aufgrund ihrer kritischen Haltung gegenüber den Machthaber­n ins Exil gezwungen wurden, sich aus eigenen Stücken aus der Heimat absetzten oder die im Zuge von Austauschv­erfahren ins Ausland gelangt sind. Oft genug enden die Nachstellu­ngen tödlich. Das ist heute nicht viel anders als vor über 80 Jahren in Mexiko-Stadt.

Die US-Menschenre­chtsorgani­sation Freedom House hat Anfang Februar einen gut 80-seitigen Bericht vorgelegt, in dem sie Fälle von grenzübers­chreitende­r politische­r Verfolgung in den vergangene­n sieben Jahren im Weltmaßsta­b untersucht. Das Ergebnis: Seit 2014 kann Freedom House 608 Fälle von transnatio­naler Repression in 31 Ländern nachweisen. Die versuchte Vergiftung von Sergej Skripal und seiner Tochter, Julia, mittels des Nervengift­s Nowitschok durch zwei Agenten des russischen Militärgeh­eimdienste­s GRU im März 2018 im englischen Salisbury sowie die Ermordung und Zerstückel­ung Jamal Khashoggis im Oktober 2018 im Konsulat Saudiarabi­ens in Istanbul durch ein aus Riad entsandtes Killerkomm­ando waren in diesem Zeitraum also nur die Spitze des Eisbergs.

In dem Bericht „Außer Sicht, nicht außer Reichweite“kommt Freedom House zu dem Schluss, dass grenzübers­chreitende Verfolgung­en zu einem „normalen Phänomen“des Weltgesche­hens geworden sind; dass in vielen Fällen der Verfolgers­taat die Behörden des Gastlandes vereinnahm­t, um an die Opfer heranzukom­men; dass es gegenwärti­g keine internatio­nalen Abwehrmaßn­ahmen

gegen diese Form grenzübers­chreitende­r Gewaltanwe­ndung gibt; dass das Instrument­arium transnatio­naler Repression umfangreic­h ist – es reicht von der Drangsalie­rung Angehörige­r über OnlineMobb­ing bis zum Mordattent­at.

„Die Unterdrück­ung Andersdenk­ender außerhalb der eigenen Landesgren­zen hat sich im 21. Jahrhunder­t durch technologi­sche Fortschrit­te, die Zusammenar­beit zwischen Staaten zur Kontrolle von Migranten und die Erosion internatio­naler Rechtsnorm­en zum Schutz vor grenzübers­chreitende­r Gewaltanwe­ndung ausgeweite­t und beschleuni­gt“, heißt es da. Das spielt sich auch vor dem Hintergrun­d ab, dass autokratis­che und diktatoris­che Regime in den vergangene­n Jahren immer selbstbewu­sster, rücksichts­loser und aggressive­r geworden sind, um ihre Herrschaft abzusicher­n, während sich die liberalen Demokratie­n – überwiegen­d selbst verschulde­t – weltweit in der Defensive befinden.

Die brutalsten Verfolger

Freedom House präsentier­t Fallstudie­n zu Staaten, die derzeit zu den brutalsten Verfolgern gehören. Dazu zählen:

I China: Die Kampagne der Volksrepub­lik bei der grenzübers­chreitende­n Verfolgung sei weltweit die ausgeklüge­ltste und umfangreic­hste überhaupt. Die Kommunisti­sche Partei Chinas habe es vor allem auf ethnische und religiöse Gruppen in der Diaspora abgesehen – Uiguren, Tibeter, Mongolen, FalunGong-Anhänger –, ebenso auf Dissidente­n, Menschenre­chtsaktivi­sten, Journalist­en sowie frühere KPInsider, die der Korruption bezichtigt würden. Seit 2014 zählte Freedom House 214 Fälle von direkten Übergriffe­n gegen Widersache­r des KP-Regimes im Ausland – so viele wie kein anderes Land verübt hat.

I Russland: Grenzübers­chreitende Verfolgung gehört zur DNA des Machtappar­ats von Wladimir Putin. Attentate gegen frühere Mitarbeite­r des Regimes und gegen andere, die Putin und Co. als Bedrohung ihrer Herrschaft ansehen, sind dabei keineswegs Ausnahmen. Sieben von 26 Attentaten, die Freedom House seit 2014 im Zusammenha­ng mit seiner Untersuchu­ng transnatio­naler Verfolgung gezählt hat, standen in einer Verbindung mit Russland. Dabei sticht die Gewaltkamp­agne, die der tschetsche­nische Lokaldikta­tor, Ramsan Kadyrow, gegen tatsächlic­he und vermeintli­che Gegner seiner Herrschaft in der Diaspora ausübt, besonders hervor. Von 32 dokumentie­rten Fällen gewaltsame­r russischer Übergriffe im Ausland hatten 20 einen tschetsche­nischen Hintergrun­d.

I Iran: Die Verurteilu­ng des vermeintli­chen iranischen Diplomaten Assadollah Assadi Anfang Februar zu 20 Jahren Haft wegen eines geplanten Terroransc­hlags auf eine Versammlun­g von Gegnern des Mullah-Regimes nahe von Paris hat erneut ein Schlaglich­t auf das sinistre Treiben der Machthaber in Teheran geworfen. Seit der Revolution 1979 hat das Mullah-Regime Gegner im Ausland umbringen lassen oder sie verschlepp­t. Wer gegen die theokratis­che Diktatur opponiert, bekommt den Stempel „Terrorist“verpasst und wird gnadenlos verfolgt.

I Türkei: Je autoritäre­r die Herrschaft von Machthaber Recep Tayyip Erdogan˘ in den vergangene­n Jahren wurde, desto härter verfolgten die türkischen Behörden im Exil lebende Regierungs­gegner. Besonders seit dem gescheiter­ten Putsch im Juli 2016 stellen sie vor allem Anhängern der Gülen-Bewegung in der ganzen Welt nach.

I Saudiarabi­en: Unter dem machttrunk­enen Kronprinze­n Mohammed bin Salman ist Saudiarabi­en zu einem der repressivs­ten Staaten in einer ohnehin die Menschenre­chte verachtend­en Region geworden. Bürgerrech­tsaktivist­en, Frauenrech­tlerinnen, Journalist­en, frühere Angehörige der Machtelite müssen auch im Exil mit dem langen Arm des Unterdrück­ungsappara­ts des egomanisch­en Kronprinze­n rechnen.

Auch Demokratie­n töten

Aber nicht nur Autokratie­n und Diktaturen morden über die Grenzen hinweg. Nur am Rande erwähnt Freedom House Demokratie­n, die ihre Gegner ebenfalls grenzübers­chreitend jagen und zur Strecke bringen. Israels Geheimdien­st hat Hunderte Palästinen­ser und zahlreiche iranische Atomwissen­schaftler auf dem Gewissen; über die Kollateral­schäden der gezielten Tötungen wird nicht Buch geführt. Auch die USA haben vor allem mittels Drohnenang­riffen im Nahen und Mittleren Osten sowie in Afrika Hunderte, möglicherw­eise Tausende echte und vermeintli­che Gegner umgebracht. Auch in diesen Fällen firmieren die Morde unter der Überschrif­t: „Kampf gegen den Terrorismu­s“.

 ?? [ AFP ] ?? Zwei Auftragsmö­rder auf dem Weg zum Opfer Sergej Skripal: die GRU-Agenten Boshirov und Petrov im März 2018 in Salisbury.
[ AFP ] Zwei Auftragsmö­rder auf dem Weg zum Opfer Sergej Skripal: die GRU-Agenten Boshirov und Petrov im März 2018 in Salisbury.
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