Angelpunkt der österreichischen Coronapolitik ist der blinde Fleck
Die Republik hat kein Problem, selbst Grenzen dichtzumachen, heult aber auf, wenn die Deutschen Tirol als Mutanten-Gefahrenherd identifizieren.
Leitartikel von Christian Ultsch .........................
Die Nerven liegen blank, die Grenzbalken gehen herunter. Um die Ausbreitung von ansteckenderen Varianten des Coronavirus einzudämmen oder zumindest zu verlangsamen, hat Deutschland die Regeln für Einreisende aus Tirol und Tschechien verschärft. Wer aus Gebieten, in denen die südafrikanische oder die britische Mutante grassiert, in die Bundesrepublik kommen will, muss entweder die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen, den Wohnsitz in Deutschland haben oder am Steuer eines Lastkraftwagens sitzen, einen Medizin- oder Pflegeberuf ausüben, einer „systemrelevanten“Pendlergruppe angehören oder zu einem Begräbnis oder dringenden Arztbesuch unterwegs sein – und in jedem Fall einen aktuellen negativen Coronatest vorweisen und sich online angemeldet haben. Das ist eine lange Liste von Kriterien, und mindestens ebenso lang ist die Liste der Beschwerden aus Österreich.
Manche davon sind berechtigt, andere bloß wehleidig. Unsinnig war die anfängliche Idee, den Transit über das Deutsche Eck zu blockieren und Tiroler an der Fahrt nach Salzburg zu hindern. Nach Protesten erlaubte Deutschland am Montag schließlich die Durchfahrt. Gut so, die Schleierfahndung ist schon erfunden, und Tiroler Kennzeichen sind für die bayrische Polizei auch ein paar Kilometer von der Grenze entfernt erkennbar.
Zur Beruhigung trüge auch bei, wenn die Deutschen definieren könnten, welche Berufe sie nun als systemrelevant erachten und welche nicht. Wobei die Unklarheit in diesem Fall offenbar erst dadurch entstand ist, dass es ausgerechnet Bayerns Hardcore-Truppe gelang, die deutsche Gründlichkeit in einem ersten Waschgang aufzuweichen und beruflich bedingte Ausnahmen für die Einreise zu schaffen. Und auf eine Ausnahme folgt dann meist die nächste: Was heißt schon systemrelevant? Bis Mittwoch soll es Klarheit geben.
Die Tiroler hoffen, dass am Ende alle Pendler relevant sind. Schützenhilfe erhalten sie dabei von der Bundesregierung. Jede Spitze aus Wien gegen Berlin und München ist derzeit Balsam für die verletzte Tiroler Corona-Seele. Der Innenund der Außenminister bemühen sich um das nötige Empörungstremolo in Richtung Deutschland. Und innenpolitisch kommt der VP-Hälfte des Kabinetts der kleine Grenzstreit mit dem großen Nachbarn im Moment auch nicht ganz ungelegen.
Der erregt-beleidigte Unterton in der Auseinandersetzung befremdet jedoch einigermaßen: Mit der Transitblockade hat Deutschland anfänglich eindeutig übers Ziel geschossen, aber zwischen Wien und Innsbruck tun manche so, als wären die deutschen Grenzmaßnahmen insgesamt aus der Luft gegriffen. Das ist eine psychoakrobatische Verdrängungsleistung der Sonderklasse; in dieser Disziplin dürften die Österreicher, anders als beim Kampf gegen Corona, tatsächlich zur Weltspitze gehören.
Die Deutschen kontrollieren an ihrer Grenze nicht deshalb, weil sie das arme Tiroler Volk sekkieren wollen, sondern weil sich in Tirol nun einmal ein europäischer Brennpunkt der ansteckenderen südafrikanischen Virusvariation befindet. Das mochte die Landesregierung in den Alpen bekanntlich viel zu lang nicht wahrhaben. Aber man kann es Deutschland nicht verübeln, wenn es sich vor der Mutante schützen will. Vor ein paar Tagen hat die Bundesregierung in Wien eine Reisewarnung für Tirol ausgesprochen, da wird Deutschland doch wohl die Kontrolle an der Grenze verschärfen dürfen. Anders als vielleicht in Tirol ist Ischgl nicht vergessen bei den Nachbarn. In der ersten Coronawelle ließen sich fast 10.000 deutsche Infektionsfälle direkt nach Österreich, dem ausländischen Ansteckungsherd Nummer eins, zurückverfolgen. Die Tiroler VogelStrauß-Taktik bei der Südafrika-Mutante hat das Trauma wieder aufgefrischt.
Die Kluft zwischen der Selbst- und Fremdwahrnehmung Österreichs verblüfft immer wieder. Das Virus kommt stets von woanders, nur nicht aus Österreich. Die Republik hatte keine Probleme, die Grenzen zu Italien oder Tschechien dichtzumachen, heult aber auf, wenn andere Länder Österreich als Gefahrenherd identifizieren. Mittlerweile ist der „blinde Fleck“ein Erkennungsmerkmal der österreichischen Coronapolitik – für die Nachbarn zumindest.