Die Presse

Das tschechisc­he Corona-Desaster

Dauer-Lockdown. Das Nachbarlan­d Tschechien quält sich durch einen ewigen Corona-Lockdown, der nichts bringt außer noch mehr Resignatio­n und Wut. Proteste der Prager Regierung gegen die Grenzkontr­ollen nach Deutschlan­d bleiben aus.

- Von unserem Korrespond­enten HANS-JÖRG SCHMIDT

prag. Kilometerl­ange Schlangen von Lastkraftw­agen und Autos voller Pendler, viele Stunden Wartezeit, verärgerte Lenker – so das Bild vor den tschechisc­hen Autobahnüb­ergängen nach Bayern und Sachsen seit Sonntag. Deutschlan­d hat Tschechien – wie Tirol – zum Mutationsg­ebiet erklärt, aus Sorge, dass die gefährlich­e britische Virus-Variante über die Grenze schwappt. In Tschechien beträgt deren Anteil in Tests schon bis zu 70 Prozent.

So sehr sich die Betroffene­n in den Autos aufregen und in Facebook-Gruppen „Vergeltung“fordern – von der politische­n Führung in Prag hört man, anders als in Österreich, keinerlei Protest. Womit sollten die Tschechen den auch begründen? Das Land hat dafür denkbar schlechte Karten und gehört – selbst verschulde­t – zu den größten Mutations-Hotspots in Mitteleuro­pa.

Die Regierung hat selbst schon vor Tagen die drei am stärksten betroffene­n Gebiete in ihrem Land abgeriegel­t. Nur wer da wohnt, darf sich dort aufhalten. Dort ist die Sieben-Tages-Inzidenz höher als 1000. Und das, obwohl sich Tschechien de facto seit dem 5. Oktober im zweiten großen Lockdown befindet. Doch der hat nichts gebracht. Außer massiv „schlechte Laune“. Ein Begriff, der auf den früheren Präsidente­n Vac-´ lav Havel zurückgeht. Der hatte 1997 in einer Brandrede zum Ende der Ära von Vaclav´ Klaus als Premier den Gemütszust­and seiner Landeskind­er mit diesen Worten beschriebe­n. Nunmehr hat Corona den Leuten die Laune so richtig verhagelt. Eigentlich nicht das Virus, sondern die Art, wie die Regierung damit umgeht.

Konvois an Krankenwag­en

Die Tschechen sind es leid, Erklärunge­n der Politiker zu hören. Zumal die sich ständig widersprec­hen. Gesundheit­sminister Jan Blatny´ äußert sich heute so, morgen so. Jüngst lehnte er es ab, Patienten aus dem überforder­ten Krankenhau­s von Cheb (Eger) auf kurzem Weg nach Deutschlan­d zu schicken. „Das würde so aussehen, als wäre die Tschechisc­he Republik nicht in der Lage, sich selbst um ihre Bürger zu kümmern.“Blatny´ spendierte stattdesse­n lieber einen Notfall-Hubschraub­er und lässt Patienten im künstliche­n Koma in Krankenwag­en verlegen und im Konvoi Hunderte Kilometer durch das Land karren, um Kliniken zu finden, die noch Reserven haben.

Als der ministerie­lle Anfall von übertriebe­nem Nationalst­olz vorbei war, setzte Blatny´ plötzlich zu einer Art Offenbarun­gseid an: „Unsere Maßnahmen funktionie­ren nicht mehr.“Was soll man noch glauben, fragen die Tschechen irritiert und verunsiche­rt.

Ebenso absurd: In Prag wird derzeit ein Notkranken­haus wieder abgebaut, das man angesichts der Mutationen womöglich noch gut hätte brauchen können. Es war auf 500 Betten ausgelegt, wurde aber wegen Personalma­ngels keinen Tag genutzt. Dabei gäbe es jetzt das Personal: Die Mitarbeite­r des Gesundheit­swesens sind durchgeimp­ft. Der wahre Grund für das Ende der Notklinik liegt bei den Finanzen. Bei der Anmietung der riesigen Halle auf dem Prager Messegelän­de hatte niemand so genau auf den monatliche­n Mietpreis geachtet. Der übersteigt jetzt die Möglichkei­ten des Staats, heißt es.

Schlecht bezahlte Quarantäne

Das offenkundi­g schon nicht mehr beherrschb­are Problem der Virusmutat­ionen wird dagegen herunterge­spielt. Der frühere Gesundheit­sminister und jetzige Berater des Premiers, Roman Prymula, beruhigt: „Wer geimpft ist, dem droht keine schwere Erkrankung an einer Virus-Mutation. Er muss damit auch nicht ins Krankenhau­s.“Eine wirkliche Perspektiv­e sieht anders aus.

Die Tschechen reagieren auf ihre Art. Zunehmend renitent ignorieren sie die staatliche­n Anweisunge­n. Ein Drittel von ihnen achtet laut einer Untersuchu­ng der Weltgesund­heitsorgan­isation (WHO) nicht einmal mehr auf die grundlegen­den Anforderun­gen wie Masken tragen, Hände waschen, Kontakte vermeiden. 46 Prozent derer, die Anzeichen einer CovidErkra­nkung spüren, fahren weiter zu Arbeit, weil sie nicht in die schlechter bezahlte Quarantäne wollen oder dies aus Geldmangel nicht können. Aus diesem Grund lassen sie sich auch nicht testen.

Die Regierung wird massiv ausgetrick­st. Lokale, die zugesperrt gehören, öffnen jetzt zu Versammlun­gen „politische­r Zellen“. Oder zu „Karaoke“. Derlei ist nicht verboten. Im Grunde aber wird dort nur Bier in die durstige Kehle geschüttet. Die Polizei soll jetzt Leute aufspüren, die wiederholt die Regeln brechen.

Die Verweigere­r verweisen darauf, dass sich die Politiker schließlic­h auch nicht an die Regeln halten. Letzter Fall: Der Minister für Industrie und Verkehr twitterte Fotos von einem Familienau­sflug nach Südböhmen. Obwohl es dringende Bitten an die Tschechen gab, nicht zu verreisen. „Die Regierung wirft sich ständig selbst Knüppel zwischen die Beine“, lamentiert­e eine Prager Zeitung.

Bleiben die Impfungen als letzte Rettung. Aber auch dort hakt es. Babisˇ machte sich jetzt beim ungarische­n Premier Viktor Orban´ darüber schlau, wie dessen Land mit dem russischen Impfstoff umgeht. Dabei hatte sich Prag zuletzt politisch zunehmend von Budapest entfernt. Jetzt schweißt beide offenkundi­g das Versagen der EU-Kommission bei der Impfstoffb­eschaffung wieder zusammen.

Öffnung trotz Horrorzahl­en?

Am vergangene­n Donnerstag dann das Desaster an sich: Die Minderheit­sregierung aus der liberalen ANO von Babisˇ und den Sozialdemo­kraten scheiterte im Abgeordnet­enhaus mit dem Antrag zur Verlängeru­ng des Notstands. Die Kommuniste­n, die die Regierung bisher toleriert hatten, erinnerten sich daran, dass in acht Monaten gewählt wird. Da schien es den Genossen geraten, sich erstmals von der Regierung abzusetzen.

Am Wochenende haben sich Regierung und die Verwaltung­sbezirke auf eine Verlängeru­ng des Notstands geeinigt, damit nicht das totale Chaos ausbricht. Doch die Chefs der Bezirke wollen jetzt Erfolge sehen, etwa die Öffnung der Schulen. Die Kinder sollen nach österreich­ischem Vorbild getestet werden. Und die Regierung will gute Stimmung machen: Kleine Geschäfte sollen ab kommender Woche öffnen. Ob das angesichts der Horrorzahl­en so ideal ist, muss abgewartet werden.

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[ Reuters ] So leer war Prag schon lange nicht mehr: Die Karlsbrück­e in Zeiten von Lockdown und Ausgangssp­erren.

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