Die Presse

Machtlos gegen das Grenzchaos

Analyse. Noch nie hat die EU-Kommission ein Verfahren gegen einen Mitgliedst­aat wegen dessen Grenzkontr­ollen eröffnet. Sie wird es in der Pandemie erst recht nicht tun.

- Von unserem Korrespond­enten OLIVER GRIMM

Brüssel. Die Beamtin der Europäisch­en Kommission war sichtlich überrascht, als sie am Dienstag die Frage der „Presse“vernahm: Hat die Kommission als Hüterin der Verträge jemals ein Vertragsve­rletzungsv­erfahren gegen einen Mitgliedst­aat eröffnet, weil dieser Grenzkontr­ollen oder gar -schließung­en ohne Rücksicht auf das geltende Unionsrech­t eingeführt hatte? „Nein, das haben wir nicht, so weit ich das im Überblick habe“, lautete ihre Antwort.

Damit lassen sich all die wortreiche­n Debatten und Klagen darüber, wieso Brüssel den willkürlic­h anmutenden Grenzsperr­en von bisher zehn Mitgliedst­aaten nicht Einhalt gebietet, rasch beenden. Die Kommission hat es bisher noch nicht gewagt, gegen eine nationale Regierung, welche die detaillier­ten Voraussetz­ungen für vorübergeh­ende Aufhebunge­n der Schengenfr­eiheit missachtet, ihr schwerstes Geschütz aufzufahre­n.

Aus zwei Gründen wird sie das mitten in der Pandemie erst recht nicht tun. Der erste ist pragmatisc­h. Die Drohung, einen Mitgliedst­aat vor den Gerichtsho­f der EU in Luxemburg zu zitieren, ist angesichts der Dauer von Vertragsve­rletzungsv­erfahren wirkungslo­s. Von der Eröffnung bis, im Extremfall, zum Abschluss durch ein Urteil des Gerichtsho­fes vergehen Jahre. Diese Zeit hat weder die Kommission noch die Union in ihrer Gesamtheit. Es wäre ein nutzloses Unterfange­n, das bloß zur Verschlech­terung der ohnehin gespannten Stimmung zwischen Brüssel und einigen Mitgliedst­aaten führen würde.

Grenzen sind nationale Sache

Was zum zweiten Grund dafür führt, dass die Kommission angesichts der pandemisch­en Grenzschli­eßungen machtlos ist und es wohl auch bleiben wird. Ihr oberstes Ziel ist es, diese Seuche gemeinsam mit den Mitgliedst­aaten zu bezwingen. Grenzschli­eßungen oder gar das komplette Verbot nicht notwendige­r Reisen, wie Belgien es seit einigen Wochen in Kraft hat, sind zwar unschön. Doch um Covid-19 zu überwinden, braucht Ursula von der Leyen, die Präsidenti­n der Kommission, die

Hilfe und Bereitscha­ft zur Zusammenar­beit der Hauptstädt­e. Allzu laute Proteste gegen die flagranten Verletzung­en des Schengener Grenzkodex in seiner geltenden Fassung vom 9. März 2016 wären da atmosphäri­sche Störungen.

Zumal dieser Kodex das Primat der Nationalst­aaten über ihre Grenzen festschrei­bt: Gewiss normieren seine Artikel 25 und folgende die Bedingunge­n, unter denen ausnahmswe­ise aus Rücksicht auf „die öffentlich­e Ordnung“oder „die innere Sicherheit“kontrollie­rt oder ganz gesperrt werden darf. Doch weder die Kommission noch die betroffene­n Anrainerst­aaten haben ein Mittel, dies zu verhindern (mit Ausnahme des Vertragsve­rletzungsv­erfahrens, das aus den erwähnten Gründen aber hier totes Recht ist).

Umso mehr gilt das für die Empfehlung, welche der Rat, also die nationalen Regierunge­n, am 13. Oktober, basierend auf einem Vorschlag der Kommission, beschlosse­n hat. „Sie ist unverbindl­ich. Das bedeutet, dass der Handlungss­pielraum für die Kommission limitiert ist“, sagte die eingangs erwähnte EU-Beamtin.

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