Machtlos gegen das Grenzchaos
Analyse. Noch nie hat die EU-Kommission ein Verfahren gegen einen Mitgliedstaat wegen dessen Grenzkontrollen eröffnet. Sie wird es in der Pandemie erst recht nicht tun.
Brüssel. Die Beamtin der Europäischen Kommission war sichtlich überrascht, als sie am Dienstag die Frage der „Presse“vernahm: Hat die Kommission als Hüterin der Verträge jemals ein Vertragsverletzungsverfahren gegen einen Mitgliedstaat eröffnet, weil dieser Grenzkontrollen oder gar -schließungen ohne Rücksicht auf das geltende Unionsrecht eingeführt hatte? „Nein, das haben wir nicht, so weit ich das im Überblick habe“, lautete ihre Antwort.
Damit lassen sich all die wortreichen Debatten und Klagen darüber, wieso Brüssel den willkürlich anmutenden Grenzsperren von bisher zehn Mitgliedstaaten nicht Einhalt gebietet, rasch beenden. Die Kommission hat es bisher noch nicht gewagt, gegen eine nationale Regierung, welche die detaillierten Voraussetzungen für vorübergehende Aufhebungen der Schengenfreiheit missachtet, ihr schwerstes Geschütz aufzufahren.
Aus zwei Gründen wird sie das mitten in der Pandemie erst recht nicht tun. Der erste ist pragmatisch. Die Drohung, einen Mitgliedstaat vor den Gerichtshof der EU in Luxemburg zu zitieren, ist angesichts der Dauer von Vertragsverletzungsverfahren wirkungslos. Von der Eröffnung bis, im Extremfall, zum Abschluss durch ein Urteil des Gerichtshofes vergehen Jahre. Diese Zeit hat weder die Kommission noch die Union in ihrer Gesamtheit. Es wäre ein nutzloses Unterfangen, das bloß zur Verschlechterung der ohnehin gespannten Stimmung zwischen Brüssel und einigen Mitgliedstaaten führen würde.
Grenzen sind nationale Sache
Was zum zweiten Grund dafür führt, dass die Kommission angesichts der pandemischen Grenzschließungen machtlos ist und es wohl auch bleiben wird. Ihr oberstes Ziel ist es, diese Seuche gemeinsam mit den Mitgliedstaaten zu bezwingen. Grenzschließungen oder gar das komplette Verbot nicht notwendiger Reisen, wie Belgien es seit einigen Wochen in Kraft hat, sind zwar unschön. Doch um Covid-19 zu überwinden, braucht Ursula von der Leyen, die Präsidentin der Kommission, die
Hilfe und Bereitschaft zur Zusammenarbeit der Hauptstädte. Allzu laute Proteste gegen die flagranten Verletzungen des Schengener Grenzkodex in seiner geltenden Fassung vom 9. März 2016 wären da atmosphärische Störungen.
Zumal dieser Kodex das Primat der Nationalstaaten über ihre Grenzen festschreibt: Gewiss normieren seine Artikel 25 und folgende die Bedingungen, unter denen ausnahmsweise aus Rücksicht auf „die öffentliche Ordnung“oder „die innere Sicherheit“kontrolliert oder ganz gesperrt werden darf. Doch weder die Kommission noch die betroffenen Anrainerstaaten haben ein Mittel, dies zu verhindern (mit Ausnahme des Vertragsverletzungsverfahrens, das aus den erwähnten Gründen aber hier totes Recht ist).
Umso mehr gilt das für die Empfehlung, welche der Rat, also die nationalen Regierungen, am 13. Oktober, basierend auf einem Vorschlag der Kommission, beschlossen hat. „Sie ist unverbindlich. Das bedeutet, dass der Handlungsspielraum für die Kommission limitiert ist“, sagte die eingangs erwähnte EU-Beamtin.