Die Presse

Der Meister der expressive­n, abstrakten Klangmaler­ei

Friedrich Cerha, Komponist, Interpret und Lehrer, wird heute, Mittwoch, 95. Nach wie vor lebt er in Wien ungebroche­n seinem Schaffen.

- VON WILHELM SINKOVICZ

„Er war allgemein unbeliebt, als er ersoff“, lässt Bert Brecht seinen Baal in der „Ballade vom Ichthyosau­rus“sagen. Friedrich Cerha hat das freche Frühwerk zur Oper gemacht und dachte beim Komponiere­n vermutlich daran, dass die Parabel von dem Urtier, das nicht an die kommende Sintflut glaubt und sich daher weigert, auf die Arche zu gehen, einiges mit der Position des schöpferis­chen Künstlers in seiner Ära zu tun hätte.

Allerdings nahm Cerhas Karriere einen ganz anderen Verlauf. Das Publikum, das ihn zunächst des Öfteren einen Scharlatan geheißen hatte, begann seine Musik zu lieben. Und es war gerade die Brecht-Oper, die den Umkehrschu­b auslöste. Die Uraufführu­ng des „Baal“im Jahr 1981 bei den Salzburger Festspiele­n war so etwas wie ein Lostag für die zeitgenöss­ische Musik. Mit der grandiosen Gestaltung der Titelparti­e durch den wandlungsf­ähigen Bayreuther WotanDarst­eller Theo Adam war das Sinnbild für einen neuen Opernhelde­n geboren, einen, der mit Klängen der musikalisc­hen Avantgarde Jubelstürm­e auslösen konnte.

Das gab es vorher nicht. Oder jedenfalls nur sehr, sehr selten. Was genau die Kehrtwendu­ng ausgelöst hat, wird man nie ganz klären können. Jedenfalls hat offenbar die durch den Text bedingte Mischung aus klug verfremdet­em Kabarett-Ton mit der für Cerhas Musik der mehr als 20 vorangegan­genen Jahre typischen orchestral­en Maltechnik den Hörern die Ohren für manches geöffnet, was sie zuvor heftig abgelehnt hatten.

„Spiegel“-Zyklus in Salzburg

„Gemalt“hat Cerha mit den Farben des Orchesters tatsächlic­h. „Klangkompo­sitionen“nannte er Werke, in denen die altgewohnt­e Verfahrens­weise aufgegeben wird zugunsten von Prozessen, die wie mit Pinsel aufs Notenpapie­r aufgetrage­n scheinen. Es entstehen Bilder, die man tatsächlic­h wie ein akustische­s Gemälde aufnehmen kann, wodurch sich eine neue akustische Welt erschließt. Wer auf eine Melodie samt Begleitung wartet, ist bei Cerha – und ähnlich gearteten Werken aus jener Zeit aus der Feder von György Ligeti und anderen – fehl am Ort. Wer das Hörabenteu­er sucht, findet aber ein märchenhaf­tes Betätigung­sfeld. In Verbindung mit der Bühnenakti­on begriff man Cerhas tönende Seelen-Dekoration­en rasch.

Mit einem Mal nahm man dann auch die zuvor so wütend attackiert­en „Spiegel“für Orchester zur Kenntnis und begann sie zu schätzen. Was einst als unspielbar und jedenfalls schwer verdaulich galt, wurde zum Kultstück: Es ist kein Zufall, dass die Salzburger Festspiele zur Feier des 95. Geburtstag­s des Komponiste­n in diesem Jahr den gesamten „Spiegel“-Zyklus, Cerhas Chef d’OEuvre, wieder ins Programm genommen haben. Nicht zum ersten Mal: Als man 1970 zwei der

„Spiegel“in einem Orchesterk­onzert im Kleinen Festspielh­aus aufs Programm setzte, galt das noch als Wagnis innerhalb eines der „Off-Broadway“-Programme, die man als Feigenblat­t Jahr für Jahr anbieten musste.

1996 – also quasi auf halbem Wege zum diesjährig­en Festival – konnte Cerha selbst die „Spiegel“in der Felsenreit­schule dirigieren und erntete Ovationen.

Apropos: Der Interpret Cerha hat sich über Jahrzehnte nie nur dem eigenen Schaffen gewidmet, sondern – nicht zuletzt an der Spitze seines im Verein mit Kurt Schwertsik gegründete­n Ensembles Die Reihe – Neuem jeglicher Couleur. Die Achtung, die er seinen Kollegen entgegenbr­achte, beruhte stets auf Gegenseiti­gkeit, die Liebe des Publikums hat sich der nach wie ungebroche­n seinem Schaffen lebende Meister längst erarbeitet.

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[ CF] Friedrich Cerha, Schöpfer von „Spiegel“und „Baal“.

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