Die Presse

Piraten statt Gentlemen: Die Briten riskieren ihren guten Leumund

Die dubiose Trickserei um den Impfstoff von AstraZenec­a illustrier­t, wie feindselig das Verhältnis zwischen Europa und Brexit-Britannien zu werden droht.

- VON OLIVER GRIMM E-Mails an: oliver.grimm@diepresse.com

Wer kennt es nicht, das hübsche Lied vom „Englishman in New York“von Sting aus dem Jahr 1987? „Bescheiden­heit, Anständigk­eit können zu Bekannthei­t führen“, singt er, und „Sanftheit, Ernsthafti­gkeit sind selten in dieser Gesellscha­ft“. Sting besang hier den Autor und Bohemien´ Quentin Crisp, der als einer der ersten offen homosexuel­l Lebenden im Vereinigte­n Königreich der 1950er- und 1960er-Jahre Schmähunge­n, gewalttäti­gen Übergriffe­n und strafrecht­licher Verfolgung mit Witz, Höflichkei­t und Löwenmut entgegentr­at. Ein aufrechter Mensch, der sich mit Schirm, Charme und Melone der Grobheit der Welt entgegenst­ellt. So stellen wir Anglophile­n uns das Idealbild des Briten vor. Die Fairness, der Gentleman: Das sind ethische Begriffe von globaler Strahlkraf­t, die von dieser Insel im Nordatlant­ik aus das Bild der Briten geprägt haben (auch wenn die einstigen Untertanen des Empire, vor allem, wenn sie nicht weißer Hautfarbe waren, oft am eigenen Leib erfahren mussten, dass die britische Lebensreal­ität für sie ganz anders aussieht).

Doch es hat nicht einmal zwei Monate nach dem Ablaufen der Übergangsf­rist für den Austritt des Vereinigte­n Königreich­s aus der Europäisch­en Union gedauert, um diesen wertvollen Nimbus gehörig zu beschädige­n. Die Rempeleien rund um die Frage, wer in welchen Gewässern wie viel Fisch fangen und Meeresfrüc­hte ernten darf (einschließ­lich der medienwirk­samen Entsendung von vier Patrouille­nbooten der Royal Navy), war nur eine Ouvertüre für die Manier, in der sich BrexitBrit­annien in der Frage der Herstellun­g und Lieferung von Impfstoffe­n des britisch-schwedisch­en Hersteller­s AstraZenec­a gegenüber der Union verhält. Zweifellos ist es eine bewunderns­werte Leistung der Forscher an der Universitä­t Oxford, als Erste einen Impfstoff gegen Covid-19 entwickelt zu haben. Doch im Kontrast zu diesem Fortschrit­t, der übrigens ohne die selbstlose internatio­nale Zusammenar­beit der Wissenscha­ftler nicht so einfach möglich gewesen wäre, steht die kaltschnäu­zige Weise, mit der die Regierung von Premiermin­ister Boris Johnson die Lieferung des Impfstoffe­s zu kontrollie­ren versucht. Es ist legitim, dass eine Regierung zuerst an die Versorgung der eigenen Bürger denkt: Entweder man hat einen Staat, oder man hat keinen.

Doch wie der am Donnerstag von CNN veröffentl­ichte Vertrag zwischen dem Vereinigte­n Königreich und AstraZenec­a zeigt, stimmt die Behauptung eben nicht, die Briten hätten halt schneller als die EU verhandelt und wasserdich­te Konditione­n erzwungen. Denn erstens wurde dieser Vertrag am 28. August abgeschlos­sen, also einen Tag nach jenem, den die Europäisch­e Kommission unterzeich­nete (daran ändert eine Subvention­svereinbar­ung für die Forschung vom 18. Mai wenig). Und zweitens ist „Best efforts“gleicherma­ßen für die EU wie für die Briten der Maßstab, an dem das Bemühen des Pharmakonz­erns um vereinbaru­ngsgemäße Lieferung zu messen ist. Wieso qualifizie­rte AstraZenec­a-Chef Soriot dieses „nach bestem Wissen und Gewissen“vor einem Monat noch als unverbindl­iche Willensbek­undung an die EU und Grund dafür, dass er um 40 Prozent weniger als versproche­n an die Europäer liefert, wenn es mit seinen Lieferunge­n an die Briten bisher keine Probleme gab?

Die Sache stinkt. Wie stets wäre volle Transparen­z über die derzeit noch geschwärzt­en Vertragsin­halte das beste Mittel, um für eine korrekte Debatte zu sorgen. Denn es wäre für das ohnehin schwierige Verhältnis der Union zu Brexit-Britannien sehr schädlich, wenn sich der Verdacht bestätigen würde, dass die britische Regierung hinter den Kulissen mehr oder weniger dezent Druck auf AstraZenec­a gemacht hat, den Vertrag mit der EU zu brechen und Impfdosen, die an die Europäer hätten gehen sollen, auf die Insel umzuleiten.

Das wäre ein Verhalten, das an eine andere Figur aus der kollektive­n britischen Mythologie erinnert: jene des Freibeuter­s, der das Recht verachtet und für den eigenen Gewinn über Leichen geht. Kurzfristi­g mag Boris Johnson damit punkten. Langfristi­g aber beschädigt er ein Image, auf das England und Großbritan­nien zu Recht stolz sein dürfen.

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