In ihrem Ringen um eine gemeinsame außenpolitische Linie steckt die EU in Denkmustern der 1990er-Jahre fest. Das kann auf Dauer nicht gut gehen.
Leitartikel von Michael Laczynski:
Bühne frei für die Backstreet Boys der Geopolitik
Im Idealfall funktioniert die EU nach dem Prinzip des größeren Ganzen. Die nationalen Beiträge der 27 Mitgliedstaaten werden in Brüssel so zusammengefügt, dass das Ergebnis größer ist als die bloße Summe der Einzelteile. Besonders erfolgreich ist die Union mit diesem Ansatz seit jeher in wirtschaftlichen Belangen, die ja sozusagen die DNA der EU sind. Es gibt aber auch Gegenbeispiele – und eines davon ist die europäische Außenpolitik, die momentan nach dem umgekehrten Prinzip zu funktionieren scheint: Die EU als Ganzes gebietet weniger Respekt als ihre einzelnen Mitglieder. Die Art und Weise, wie EU-Chefdiplomat Josep Borrell kürzlich in Moskau von Außenminister Sergej Lawrow vorgeführt wurde, ist das letzte, aber beileibe nicht einzige Beispiel für den fatalen Hang zur Selbstverzwergung und dessen Folgen.
Warum ist das so? In ihrem Ringen um eine gemeinsame außenpolitische Linie steckt die EU im Mindset der 1990erJahre fest, als die Ära der Konflikte zwischen Groß- und Mittelmächten überwunden schien und Außenpolitik auf ihren humanitären Aspekt und das Akronym R2P reduziert wurde: Responsibility to Protect, also die Schutzverantwortung des Westens gegenüber den Opfern von Menschenrechtsverletzungen und ethnischen Säuberungen.
Was allerdings im Umgang mit Warlords in Somalia oder bei der Bekämpfung der Piraterie am Horn von Afrika angebracht sein mag, versagt auf ganzer Linie, wenn es darum geht, mit autokratischen Akteuren der alten Schule umzugehen: einem revanchistischen Russland oder der nach globaler Dominanz strebenden Volksrepublik China. Beide betreiben eine multidimensionale Außenpolitik, die klassische Diplomatie mit wirtschaftlichem Druck, handelspolitischen Präferenzen, Propaganda und Desinformation, Cyber-Spionage, Einschüchterung und militärischem Säbelrasseln kombiniert – und das leider mit Erfolg.
Während Strategen im Kreml und dem Pekinger Regierungsviertel Zhongnanhai die Welt in Einflusssphären, Rivalen und Klienten einteilen, haben Europäer die allergrößten Probleme damit, sich in diesem unfreundlichen Zeitalter zurechtzufinden. An besonders schlechten Tagen wirken sie wie die Backstreet Boys der Geopolitik, die aufgrund eines kolossalen Irrtums der Booking-Agentur dazu verpflichtet wurden, bei einem Death-Metal-Festival aufzutreten. Das kann nicht gut gehen.
D ieses Festhalten an längst überholten Denkmustern hat allerdings einen Grund: Mehr ist beim allerbesten Willen nicht drin. Die quälenden Debatten um wirksamen Gegendruck und Sanktionen mit Biss führen deshalb zu nichts, weil die Unionsmitglieder keine Antwort auf die erste und wichtigste Frage finden können – nämlich was sie durch diesen Gegendruck erreichen wollen und nach welchen konkreten Maßstäben der Erfolg der europäischen Maßnahmen gemessen werden kann. Was bei genauerer Betrachtung kein Wunder ist, denn unter dem breiten Dach der EU versammeln sich Neutrale und Nato-Mitglieder, die global denkende Nuklearmacht Frankreich und der mental entmilitarisierte Exportweltmeister Deutschland, pathologisch konziliante Russland-Versteher und gebrannte Kinder des Warschauer Pakts. Wer bei dieser Ausgangslage auf eine muskulöse Außenpolitik der EU hofft, muss zwangsläufig enttäuscht werden.
Ist die EU deshalb, wie zuletzt in Moskau, zum Misserfolg verurteilt? Keineswegs. Sie braucht allerdings mehr Realismus. Der Weg dorthin führt über vier Erkenntnisse. Erstens: Die außenpolitische Schnittmenge der EU-27 ist klein und lässt sich auf absehbare Zeit nicht erweitern. Zweitens: Sanktionen bewirken selten einen Sinneswandel zum Guten, aber sie können als Warnschuss Schlimmeres verhindern. Drittens: Strafmaßnahmen zeigen die Grenzen der europäischen Toleranz auf, auch wenn das Ziehen dieser Grenzen kein Allheilmittel ist. Und viertens: Entgegen anderslautenden Behauptungen diverser EU-Politiker sind Sanktionen nicht das Gegenteil von Diplomatie – sondern ihr integraler Bestandteil.
Brüssel. Etwas mehr als ein Jahr hat es gedauert, ehe die Europäische Union ihren neuen Mechanismus zur Bestrafung von Menschenrechtsverletzungen einsetzt. Bei ihrem Treffen in Brüssel am Montag beschlossen die 27 EU-Außenminister, bis zu ihrem nächsten Treffen im März eine Liste mit voraussichtlich vier russischen Staatsbediensteten zu erstellen, die eine führende Rolle bei der illegalen Verhaftung des Oppositionellen Alexej Nawalny sowie bei der Niederschlagung der jüngsten Protestwelle gespielt haben. Auch die Militärjunta in Burma kommt auf diese Weise ins Visier der Europäer (siehe Seite 2). Den Betroffenen drohen ein Einreiseverbot in die EU sowie die Beschlagnahme etwaiger Vermögenswerte.
Grundlage dafür ist der Beschluss der EU-Regierungen vom 7. Dezember 2020 „über restriktive Maßnahmen gegen schwere Menschenrechtsverletzungen und -verstöße“. Er ermächtigt die 27 Regierungen, einstimmig Personen auf die beschriebene Weise zu bestrafen, wenn sie für Menschenrechtsverstöße verantwortlich sind, solche Verstöße „finanziell, technisch oder materiell unterstützen oder anderweitig daran beteiligt sind, unter anderem durch Planung, Leitung, Anordnung, Unterstützung, Vorbereitung, Erleichterung oder Förderung solcher Handlungen, oder mit solchen Personen in Verbindung stehen“.
Hier liegt der juristische Grund dafür, dass die Außenminister mit chirurgischer Präzision vorgehen und einzelne mittlere Funktionäre des russischen Repressionsapparats sanktionieren, statt das politische System anzugreifen, kraft dessen Präsident Wladimir Putin in seinen zwei Jahrzehnten an der Spitze des Kreml jegliche politische Konkurrenz ausgeschaltet hat. Also keine Sanktionen gegen Oligarchen wie Roman Abramowitsch oder Alischer Usmanow. Die Außenminister und ihre Regierungen fürchten, dass eine Sanktionierung dieser Kremltreuen Milliardäre vor dem Gerichtshof der EU nicht standhielte.
10.000 Euro für zwei Wochen Haft
Leonid Wolkow teilt diese Sorge nicht. „Man muss das System Putin verstehen“, sagt Nawalnys Kabinettschef am Montag in Brüssel im Gespräch mit der „Presse“und anderen europäischen Medien. „Die Oligarchen wären ohne das Repressionssystem nicht Oligarchen. Und umgekehrt könnten jene, die die Repression ausüben, dies nicht ohne die Unterstützung der Oligarchen tun.“Wolkow, der seit August 2019 im litauischen Exil lebt, hat einen konkreten Vorschlag für die Europäische Union: „Russland wurde bereits wegen Tausender Menschenrechtsverletzungen vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg verurteilt – und es hat diese Urteile anerkannt, indem es die Strafen bezahlt hat.“
Was kostet es den Kreml, jemanden wie Wolkow für zwei Wochen wegen der Teilnahme an einer Demo einzusperren? „Ungefähr 10.000 Euro.“Jährlich muss Russland solche Strafen in der Höhe von rund zehn Millionen Euro berappen. „In diesen Urteilen sind die Namen aller beteiligten Richter und Staatsanwälte. Es gibt also eine Datenbasis.“Diese Mittelschicht des Kreml-Systems hat ein Interesse, weiterhin Sommerurlaub in Italien oder Skiferien in Österreich machen zu können. EU-Sanktionen wären für sie eine Abschreckung, allzu rasch Demonstranten einsperren zu lassen.
Doch so weit wagt sich die EU nicht vor. Man will „Gesprächkanäle“offenhalten, sagte der deutsche Außenminister, Heiko Maas. Wolkow hält das für vergebliche Liebesmüh: „Putin kann kraft seines KGB-Hintergrunds westliche Politiker nur als scheinheilig ansehen: Sie reden über Menschenrechte – aber dann kommen sie, um sein Gas und Öl zu kaufen.“