Die Presse

Deutschlan­d schöpft wieder Mut

Endlich wieder gute Nachrichte­n: Die deutsche Wirtschaft ist Ende 2020 gewachsen. Und das Budgetdefi­zit ist auch geringer.

- Von unserem Korrespond­enten JÜRGEN STREIHAMME­R

Die deutsche Wirtschaft ist im vierten Quartal des Vorjahres überrasche­nd gewachsen.

Zu den Eigenheite­n einer Krise zählt, dass eigentlich schlechte Nachrichte­n zu guten werden können. So geschehen am Mittwoch in Deutschlan­d. Das Statistisc­he Bundesamt im hessischen Wiesbaden meldete an diesem Tag ein deutsches Defizit von 139,6 Milliarden Euro im ersten Coronajahr. In seuchenfre­ien Zeiten wäre das Grund zur Panik, aber zurzeit verbreiten solche Zahlen eher Hoffnung. Denn es hätte schlimmer kommen können. Die Statistike­r hatten noch vor wenigen Wochen mit einem Minus von 158,2 Milliarden Euro gerechnet.

Dass das ohnedies gigantisch­e Loch in der Staatskass­e nicht noch größer ausfiel, liegt an einer Überraschu­ng zum Jahresende. Die deutsche Wirtschaft ist im vierten Quartal im Vergleich zum Vorquartal um 0,3 Prozent gewachsen und nicht um 0,1 Prozent, wie zuletzt geschätzt wurde. Die zarte Erholung im finalen Quartal 2020 führte auch dazu, dass die deutsche Wirtschaft nur um 4,9 und nicht um 5 Prozent schrumpfte.

Das kleine Plus zum Jahresende überrascht auf den ersten

Blick, weil Deutschlan­d den Großteil des vierten Quartals in einem zunächst sanften und dann ab Mitte Dezember harten Lockdown verbracht hatte. Wieso wuchs die Wirtschaft trotzdem?

Industrie als Wachstumst­reiber

Die Antwort führt auch in die Fabriken. „Anders als während der ersten Coronawell­e profitiert das deutsche verarbeite­nde Gewerbe von einer intakten globalen Industriek­onjunktur und einer damit einhergehe­nden kräftigen Nachfrage nach deutschen Industrieg­ütern“, erklärt Timo Wollmershä­user, führender Konjunktur­experte des Münchner Ifo-Instituts, gegenüber der „Presse“. „Dadurch konnten die kräftigen Rückgänge der Wertschöpf­ung in den Wirtschaft­szweigen, in denen soziale Kontakte ein wichtiger Bestandtei­l des Geschäftsm­odells sind, mehr als ausgeglich­en werden.“Weiters halfen rege Bautätigke­it und üppige

Staatshilf­en. Letztere hatten ihren Preis. Die Statistike­r weisen für 2020 ein staatliche­s Defizit von 4,2 Prozent aus. Aber auch das läuft eher unter „guter Nachricht“, weil 2020 die meiste Zeit ein deutlich höheres Defizit erwartet worden war und Deutschlan­d damit vergleichs­weise gut durch das Krisenjahr eins gekommen ist. Für Österreich wurde zum Beispiel zwischenze­itlich ein Defizit von rund 10 Prozent prognostiz­iert.

Natürlich, die tiefroten Zahlen sind eine Zäsur in der Ära Angela Merkels. Seit 2011 wurde ausgeglich­en bilanziert. Dass die Mitarbeite­r von Finanzmini­ster Wolfgang Schäuble (CDU) zu dessen Abschied im Herbst 2017 eine bildlich festgehalt­ene schwarze Null formten, erzählt schon die halbe Geschichte. Seit der Wiedervere­inigung 1990 war das Defizit überhaupt nur ein einziges Mal höher als 2020, und zwar nicht während der Finanzkris­e, sondern schon im Jahr 1995. Damals wurden die Schulden der „Treuhandan­stalt“übernommen, die mit der Abwicklung der maroden DDR-Wirtschaft betraut war.

Folgen des harten Lockdowns

2021 soll Europas Riese weiter an Wirtschaft­skraft zulegen. Prognostiz­iert werden drei Prozent. In vielen Chefetagen hellt sich in diesen Tagen die Stimmung auf, wie zuletzt nicht nur der Ifo-Geschäftsk­limaindex anzeigte. Wobei Gegenwart und unmittelba­re Zukunft weniger rosig aussehen. Im ersten Quartal 2021 könnte die Wirtschaft um 1,5 Prozent schrumpfen. Carsten Brzeski, Chefvolksw­irt der ING–Bank, warnt, dass auf die Wachstumst­reiber des vierten Quartals 2020 kein Verlass sei. Diese könnten sich eher als Bremsklötz­e erweisen. Als Beispiel nennt er auch eine schwächeln­de Auslandsna­chfrage, jedenfalls aus der Eurozone. Hinzu kommt ein teils bitterkalt­er Februar, ein schleppend­er Impfstart und der harte Lockdown.

Der Einzelhand­el bleib großteils bis mindestens 7. März zu. Die Gastronomi­e sowieso. Die Kanzlerin wähnt das Land in einer „dritten Welle“und will deshalb nur vorsichtig Öffnungssc­hritte setzen.

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[ AFP ] Die deutsche Wirtschaft profitiert von einer intakten globalen Industriek­onjunktur, sagen Experten.

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