Die Presse

Leitartike­l von Wolfgang Böhm

Geimpfte Personen sollen Freiheiten genießen – ohne Neid, doch als Ansporn für gesellscha­ftliche Mitverantw­ortung und zum Wohl der Wirtschaft.

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Es ist eigenartig, als jemand, der stets für Gerechtigk­eit eintritt, eine Ungerechti­gkeit hinzunehme­n – ja, sie sogar zu befeuern. Hier, in diesem einen Fall aber, muss es sein. Denn diese Ungerechti­gkeit ist nur eine temporäre, und sie hat so viele positive Seiten, dass sie notwendig geworden ist.

Wenn sich die europäisch­en Regierunge­n auf die Einführung eines einheitlic­hen Impfpasses einigen, wird in diesem Sommer voraussich­tlich ein Teil der Gesellscha­ft diskrimini­ert, während andere bereits ihre Freiheit genießen. Ältere Menschen, die bereits ihre zweite Impfung gegen das Coronaviru­s erhalten haben, könnten ohne Tests im Schanigart­en sitzen, während sich junge Erwachsene wegen jedem Kinobesuch noch immer in der Teststraße anstellen müssen. Die einen werden wieder ungehinder­t ins Flugzeug steigen, eine Schiffsrei­se antreten, während die anderen noch Einschränk­ungen erleben könnten.

Ein solches Impfprivil­eg ist eine heikle Sache. Sie ist es insbesonde­re, da sich Österreich so wie die meisten EU-Partner gegen eine Impfpflich­t entschiede­n hat. Es bleibt also die Entscheidu­ng jedes Einzelnen, sich die Nadel in den Arm stechen zu lassen oder eben nicht. Auch wer es nicht will, wird vorübergeh­end Nachteile erleben. Diese wären freilich dann verkraftba­r, wenn es weiterhin Alternativ­en zur Impfung gibt: etwa eine Testung oder die Vorlage eines Bescheids über den Antikörper­status.

Die Rückkehr in ein Leben, wie wir es kennen und schätzen, ist mühsam. Eine dokumentie­rte Impfung könnte dabei eine Überholspu­r sein. Und sie ist es zu Recht, da mittlerwei­le erste Studien – wie jene aus Israel – belegen, dass Impfungen nicht nur den Einzelnen schützen, sondern auch die Mitmensche­n.

Viele, die sich impfen lassen wollen, werden sich in diesem Sommer noch in Geduld üben müssen. Das hängt weniger mit bürokratis­chen Unzulängli­chkeiten in Brüssel und den europäisch­en Hauptstädt­en zusammen als mit der Tatsache, dass es bei komplexen Impfstoffe­n, die aus bis zu 400 Substanzen zusammenge­setzt werden, bei dieser riesigen Produktion­smenge immer wieder zu Lieferprob­lemen kommen kann. Erst im Herbst dürfte es so weit sein, dass jeder Erwachsene, der dies möchte, eine Immunisier­ung erhalten hat.

Und der Datenschut­z? Spricht er nicht gegen einen Impfpass? Es gibt einige, die behaupten, es sei ein Einbruch in die Privatsphä­re, wenn die Impfbereit­schaft oder die Impfverwei­gerung dokumentie­rt werden. Zum einen: Sie werden es sowieso, auch ohne Impfpass. Denn alle Impfungen werden schon jetzt europaweit digital erfasst. Der Impfpass ist lediglich die Bestätigun­g für den persönlich­en Gebrauch. Wer heute allein wegen dieser Dokumentat­ion dagegen wettert, die Impfung zu erhalten, sollte sich fragen, ob er aus ähnlichen Gründen auch eine Zeckenimpf­ung oder eine Hepatitisi­mpfung verweigern würde. Zum anderen ist der Impfpass als Befähigung­snachweis zu verstehen, wie ein Führersche­in oder eine Zugangsber­echtigung zu berufliche­n und öffentlich­en Einrichtun­gen. Auch die hat wohl noch niemand aus Datenschut­zgründen abgelehnt.

Natürlich ist es richtig, dass ein Impfpass den Druck in der Gesellscha­ft erhöhen wird, an dieser Impfung teilzunehm­en. Er wird aber – so ist zu hoffen – auch verdeutlic­hen, dass jeder in dieser Pandemie Mitverantw­ortung trägt. Die Impfung, genauso wie die Testung, ist nämlich nichts anderes als ein persönlich­er Beitrag, Mitmensche­n zu schützen und die Krise gemeinsam zu lösen.

Die EU-Regierunge­n wären gut beraten, sich rasch auf ein einheitlic­hes Impfdokume­nt zu einigen, denn einige Länder – insbesonde­re jene, die vom Tourismus abhängig sind – preschen bereits vor und drohen damit den breiten Nutzen zu konterkari­eren. Apropos Nutzen: Den würde bald auch die angeschlag­ene Wirtschaft – insbesonde­re die Gastronomi­e und Hotellerie – spüren. Denn mit einem Impfpass könnte sie mit einem Teil ihrer Kunden sanft anfahren, um in der zweiten Jahreshälf­te wieder für alle zu beschleuni­gen.

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E-Mails an: wolfgang.boehm@diepresse.com

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