Offener Machtkampf mit dem Militär
Armenien. Das Militär forderte am Donnerstag den Rücktritt von Premier Paschinjan. Er sprach von Putschversuch. Unmittelbarer Auslöser: ein Hickhack um russische Waffen.
Im Kaukasusland Armenien, wo es seit dem verlorenen Krieg gegen Aserbaidschan im Vorjahr gärt, hat sich die Lage am Donnerstag zur Staatskrise zugespitzt. Premier Nikol Paschinjan sprach von Putschversuch, nachdem ihn das Militär am Vormittag öffentlich zum Rücktritt aufgefordert hatte. Im Gegenzug feuerte er Generalstabschef Onik Gasparian; das muss aber Staatspräsident Armen Sarkissjan erst unterzeichnen.
Das Verteidigungsministerium rief das Militär zur Zurückhaltung auf: Die Regierung gehe nur das Volk etwas an. Der zentristisch-liberale Paschinjan (45), der seit 2018 an der Spitze eines Bündnisses liberaler Kräfte regiert, rief seine Anhänger zu einer Großdemo in Jerewan zusammen. Er schritt an der Spitze einer Menge einher; bei einer Rede sagte er, nur das Volk befinde über die Regierung. Es gab wie in den vergangenen Wochen aber auch Demos von Gegnern der Regierung.
Kiefeln an der Niederlage
Aus Moskau und Ankara kamen warnende Worte. Russland ist ein Verbündeter des christlichen Armenien und hat Truppen dort, die Türkei hat das muslimische Aserbaidschan in dem Krieg unterstützt, der im September ausgebrochen ist. Dabei haben die Aseris die armenische Enklave Berg-Karabach bzw. die international nicht anerkannte „Republik Arzach“angegriffen, die in Aserbaidschan liegt. Am 9./10. November endete der Krieg mit einer Niederlage der Armenier und einem mit Vermittlung Russlands geschlossenen Waffenstillstandsvertrag. Arzach musste zwei Drittel des Gebiets abgeben und wurde von Armenien abgeschnitten, dazwischen ist nur noch ein Korridor, den russische Soldaten sichern.
Seither steht Paschinjan extrem unter Druck. Er hatte den Vertrag ohne Absprache mit Präsident und Parlament geschlossen, im Übrigen war der nationale Zorn wegen der Niederlage groß. Demonstranten stürmten sogar das Haus des Premiers. Das Militär war mit dem Ende des Krieges einverstanden, es hatte die Chancenlosigkeit gegen die stärkeren Aseris erkannt.
Paschinjan räumte ein, Verantwortung zu tragen, betonte aber, dass ein Machtwechsel der noch vorhandenen Rest-Stabilität des armen Landes schade. Immerhin stellt seine Regierungsallianz auch 88 der 132 Sitze im Parlament.
Die aktuelle Krise entzündete sich indes auf unerwartete Weise: an einer Debatte um russische Waffen und ihr vermeintliches Versagen, weswegen man verloren habe. Es begann mit Aussagen des früheren Staatspräsidenten und 2018 gestürzten Premiers Sersch Sargsjan, wonach er sich wundere, wieso Kurzstreckenraketen Typ Iskander-E nicht von Beginn an eingesetzt worden seien, gegen Massierungen von Truppen und Material der Aseris im Hinterland etwa.
Spott aus dem Generalstab
Darauf sagte Paschinjan am 23. Februar im TV, dass die Iskanders (Modell E hat 280 Kilometer Reichweite) versagt hätten. Sie seien nur bei zehn Prozent der Treffer explodiert. Als der Interviewer nachhakte, gab Paschinjan zu, dass er sich seiner Angabe nicht sicher sei („Ich weiß nicht . . .) und es vielleicht solche „aus den 1980ern“gewesen seien. Man muss dazu wissen, dass es keine klaren Daten über Iskander-Einsätze gibt: Armenien erhielt diese modernen Waffen erst ab 2016, und es wurden wohl nur ein oder zwei gegen Kriegsende abgefeuert. Unabhängige Beobachter dokumentierten zwar einige Raketenangriffe auf zivile Ziele in Aserbaidschan, aber durch ältere Typen wie Scud-B.
Den Aussagen folgte Spott von Vize-Generalstabschef Tiran Katschatrian, der quasi meinte, die Behauptung so einer Mini-Erfolgsrate sei wohl ein Witz und „oberflächliche Einschätzung“. Darauf wurde er von Paschinjan entlassen, offenbar aus einer Gemütsaufwallung heraus. Das führte nun im Militär zum Zornesausbruch: Die Entlassung sei wider die nationalen Interessen und gründe auf persönlichen Gefühlen. Der Premier sei unfähig, angemessen zu urteilen.
Vorerst gab es keine Indizien, dass das Militär handeln werde, dafür Spekulationen, dass der Ärger auch durch die Kritik an den Raketen aus Russland ausgelöst wurde. Tatsächlich schalt dort der Vizechef des Militärkomitees der Duma, Viktor Zawarzin, die Aussagen Paschinjans eine Lüge, Ingenieure verteidigten die Systeme: Paschinjan kenne sich nicht aus und solle „seine Zunge hüten“.
Die Sache sei jedenfalls ein „Eigentor angesichts der Tatsache, dass Russland der Schutzherr Armeniens ist“, heißt es. „So ein öffentlicher Stich in den Rücken ist angesichts der Abhängigkeit von Russland verblüffend“, schreibt der Polit-Analyst Hrant Michaelian.