Großmaul aus dem Jahr 3000
Vor Kurzem bin ich da in etwas Neues hineingeraten, in eine regelrechte Traube von Zeitreisenden, die alle sehr viel zu sagen haben und einander andauernd widersprechen. Ich glaube, ich bin süchtig nach ihnen geworden.
Clemens J. Setz über die Sucht nach dem Spiel mit Zeitreisen auf der Plattform TikTok.
Doch, natürlich, es gibt schon auch echte Zeitreisende, etwa diese vor ein paar Jahren von Wissenschaftlern aus dem russischen Permafrostboden geholten und danach im Labor aufgetauten Würmer. Die waren sehr lange unterwegs gewesen. Der eine Wurm war 32.000, der andere 41.700 Jahre alt – eine Tatsache, die mich eigenartig berührte und deprimierte, denn es lagen 10.000 Jahre zwischen den beiden Zeitreisenden. Stell dir vor, du wirst nach Zehntausenden Jahren aufgetaut, und dann nicht mal zusammen mit einem Gefährten aus annähernd derselben Epoche. Also bist du, obwohl am Leben, bloß wieder mutterseelenallein, umgeben von lauter Aliens und unbegreiflichen neuen Strukturen.
Aber diese in Raum und Zeit verirrten Würmer waren, wenn auch die Umstände ihres Aufeinandertreffens etwas trostlos waren, trotz allem ganz normale, ordentliche Zeitreisende. Doch vor Kurzem bin ich da in etwas Neues hineingeraten, in eine regelrechte Traube von Zeitreisenden, die alle sehr viel zu sagen haben und einander andauernd widersprechen. Und da sie mir auf der Plattform Tiktok erscheinen, also beinahe kontextlos, sondern lediglich im täglichen Chaos des auf meine von der KI errechneten Sehgewohnheiten zugeschnittenen Streams kurz aufleuchtend, sind sie nicht Teil irgendeiner „Diskussion“oder sonst einer Form von organisierter Kritik. Es sind einfach Menschen, die viel Zeit darauf verwenden, anderen weiszumachen, dass sie aus der Zukunft stammen, und ich weiß nicht, aber ich bin, glaube ich, irgendwie süchtig nach ihnen geworden. Tiktok ist total fantastisch, weil dort junge Menschen die ganze Welt neu entdecken, und das auf eine Weise, als hätte es niemanden gegeben, der je zuvor irgendetwas begriffen und für andere festgehalten hat. Man bekommt den Gebrauch von Leitern und Handschuhen erklärt, bekommt körnige UFO-Videos aus den Neunzigern vorgeführt, erfährt, dass es die lateinische Sprache und das europäische Mittelalter tatsächlich einmal gegeben hat, und vor Kurzem erhielt eine junge Frau Millionen von enthusiastisch zustimmenden Kommentaren, als sie ihre Entdeckung, dass 87 durch 29 teilbar ist, öffentlich machte. Die meisten ihrer Follower konnten ihr das nicht glauben, rechneten nach und bekamen Angst. Später entdeckte eine andere Userin, dass 51 durch 17 dividierbar ist. Bei beiden Divisionen kommt dasselbe heraus, nämlich drei. Schwarze Magie.
Aber selbst gemessen daran ist die Nische der Zeitreisenden auf Tiktok eine besonders merkwürdige. Man begegnet hier Videos von meist jungen Männern, manchmal auch nur von durch Musik und suggestive Hintergrundbilder untermalten Textfeldern, die erzählen, was in der Zukunft alles passieren wird. Das sieht zum Beispiel so aus, dass einer erklärt, er sei von seinen Followern häufig gefragt worden, wann denn nun die Welt untergehe. Er sei dafür bis ins Jahr 2148 gereist, und die Welt sei noch da gewesen. Ein Achselzucken. „Hope that helps.“
Ein anderer kündigt an, am 27. Mai 2021 werde etwas Ungeheuerliches passieren, das die Menschheit so noch nie erlebt hätte. Was es ist, verrät er natürlich nicht.
In einem anderen Video desselben Users wird der 7. Juni 2021 als beweiskräftiges Datum genannt. Wer nach dem 7. Juni noch daran zweifle, dass hier ein echter Zeitreisen
der spreche, der stelle sich wirklich extrem dumm an. Dann ein angebliches „Video vom April 2043“, das einen offensichtlich mit CGI erstellten Einschlag eines Asteroiden in den Mond zeigt. Gut gemacht, ja, mit im Mond
schatten aufwirbelnden Trümmern und so, aber doch eindeutig fake. Ein anderer Zeitreisender hat sich darauf spezialisiert, die Geschichte der irdischen Zeitreisetechnologie zu referieren. Diese sei seit dem Jahr 1981 auf der Erde möglich, aber erst im Jahr 2028 öffentlich bekannt gemacht worden. Seither gebe es ansatzweise so etwas wie kommerzielles Zeitreisen. Allerdings reise man niemals – auch das ein Punkt, den man heutigen Menschen immer geduldig erklären müsse – in die „eigene Vergangenheit“, sondern immer nur in ein Paralleluniversum. Obwohl auch dieser Begriff, zugegeben, etwas unscharf sei, er verwende ihn eben, damit ihn heutige Zuhörer verstehen können. „It’s actually way more complicated.“
Andere Prophezeiungen: Am 8. Juli 2036 wird ein Dinosaurier in North Dakota gesichtet. 2038 wird eine künstliche Intelligenz die Herrschaft über die Menschheit übernehmen. Und ab dem Jahr 2067 werden die allermeisten Menschen direkt über ihr Gehirn mit dem Internet verbunden sein.
2062 wird ein Mann namens „Rodger Milton“eine neue Lebensform im Meer entdecken. Diese unbekannte Lebensform wird „größer als ein Wal, nahe am Aussterben und obendrein extrem gefährlich“sein.
Der Insektenschwarm „Brood X“wird 2021 wieder auftreten. (Okay, das ist geschummelt, weil man die 17-Jahr-Periode dieser lärmenden Zikaden sehr leicht auf Wikipedia nachlesen kann.)
Innerhalb der nächsten zehn Jahre werden überdies 1) eine neue Schimpansenart, 2) mehrere Exoplaneten, die menschliches Leben zulassen, und 3) ein Weg zur „grüneren“Städteplanung in den USA entdeckt werden.
Was machen, was erzählen diese Leute wirklich? Was ist das für ein Spiel? Ist es ein flächig ausgefranster Insiderwitz, von dem ich ausgeschlossen bin? Die Kommentare helfen nicht weiter, denn dort wird immer nur „lol, fake“geschrieben. Niemand glaubt den Zeitreisenden, und sie erzählen und erzählen. Das ist das Spannende dabei. Es ist keine Esoterik-Ecke, wo mit vereinten Kräften an etwas sagenhaft Unwahrscheinliches geglaubt wird. Nein, fast alle Kommentare sind schnippisch, sarkastisch.
Zudem scheinen die Zeitreisenden von Tiktok auch so etwas wie einen Urtext zu besitzen, auf den sie sich häufig beziehen. Ein junger Mann namens Adam Archon machte vor etwa zwei Jahren das Internet mit der Behauptung unsicher, er komme aus dem Jahr 2045 und sei jetzt dummerweise hier in der Vergangenheit gestrandet. Seine eindrücklichste Prophezeiung damals lautete, dass Yolanda Renee King, die Enkelin von Martin Luther King Jr., im Jahr 2030 Präsidentin der Vereinigten Staaten werde. Man habe für sie die Statuten geändert, sodass auch junge Erwachsene dieses Amt bekleiden dürfen. Sie werde „die beste und letzte Präsidentin“des Landes. Yolanda R. King ist heute erst zwölf Jahre alt. Außerdem: 1981 wurde die Zeitreisetechnologie erfunden, 2028 öffentlich gemacht.
Nach Mr Archon gab sich ein sechzehn Jahre junger Mann namens Noah als Zeitreisender aus. Auch er sagte: 1981 Zeitreisen, 2028 öffentlich, Yolanda Rene´e King Präsidentin. Außerdem sprach er gern über Aliens, denn es lebten sehr viele auf der Erde, in allen Größen und Formen. Zwischendurch brach er immer wieder ab, konnte nicht weitersprechen, „because I don’t want to create a paradox“oder „certain paradoxes constrain me“.
Später erklärte Noah, er habe alles nur „aus Einsamkeit“erfunden.
Auf diesen beiden Männern scheinen die neueren Zeitreisenden von Tiktok aufzubauen. Sie übernehmen oft sogar wörtlich bestimmte Prophezeiungen. Und ich stehe vor ihren täglich mir zugetragenen Videos und verstehe nicht, was sie mir eigentlich sagen wollen. Denn sie sind alle so ernst, so bei der Sache. Klar, sie wollen Aufmerksamkeit. Aber es ist ja Aufmerksamkeit ohne jeden Prestigegewinn. Einer behauptet, aus dem Jahr 3000 zu stammen, und spricht darüber vollkommen ernst und freudlos. Es ist halt so. Jahr 3000. Kann man nichts machen. Und ja, seufz, im Jahr 3000 spreche man noch exakt dasselbe amerikanische Englisch des Jahres 2020, mit genau
Wir erfahren, dass 2038 eine künstliche Intelligenz die Herrschaft über die Menschheit übernehmen wird.
denselben Ausdrücken. Er sieht sehr müde aus. Er bedankt sich leise fürs Zuhören. Und niemand glaubt ihm.
Ein bekannter Trickmechanismus unter Bühnenmagiern nennt sich „multiple outs“. Das sieht etwa so aus, dass die Zauberin den Freiwilligen bittet, sich eine Zahl zwischen eins und zehn zu denken. Sie wisse bereits im Vorhinein, welche Zahl er wählen werde. Der Freiwillige nennt also eine Zahl, und die Zauberin greift in ihre Tasche und holt eine Karte mit genau der Zahl heraus – und alle „whoa, oh mein Gott“. Aber natürlich hatte die Zauberin einfach zehn verschiedene Taschen vorbereitet, in denen für jedes „out“, also für jedes mögliche Ende, eine entsprechende Karte lag.
Genau dieses Prinzip scheinen auch manche Zeitreisende auf Tiktok zu verwenden. Sie machen Videos, in denen sie ein großes Ereignis für den 13. März ankündigen. Dann in einem anderen Kanal ein vollkommen anders gestaltetes Video für den 14. März. Und eines für den 15. und immer so weiter. Hinterher, wenn am, sagen wir, 19. März tatsächlich etwas Weltbewegendes geschieht, suchen die Menschen im Internet natürlich nur nach diesem Datum und stoßen auf dieses Video.
Würden die Zeitreisenden ihren Fall auf unterhaltsame, enthusiastische und lustige Weise vortragen, würden mich ihre Videos gewiss nicht so fesseln. Weirdos und Großmäuler gibt es viele im Internet. Mich berührt ihre Melancholie, ihre zerstreute Lustlosigkeit, mit der sie berichten, wann der erste Kontakt zwischen Außerirdischen und Menschen stattgefunden hat, so als hätten sie das alles schon tausendmal wiederholt.
Und niemand glaubt ihnen.
Es ist ein eigentümlich vollkommenes Gesamtkunstwerk der Absurdität und Sinnlosigkeit, das auf dieser hektischen Videoplattform erblüht. Die Männer erzählen alle das gleiche, mit feinen Unterschieden, scheinen dadurch aber nicht glücklich zu werden. Sie fassen die Gegenwart in einer Art Hohlspiegel zusammen, bündeln und wiederholen sie, und werden dabei lustlos, müde und sind gelegentlich sogar, wie ihr Vorbild Noah, den Tränen nahe.
Sagenhaftes unfreies Denken
Beim Betrachten und Durchdenken der Prophezeiungen bekomme ich manchmal ein ähnliches Gefühl wie beim Lesen der verschrobenen späten Bücher von C. G. Jung über Astrologie. Man glaubt nicht an die darin analysierten Inhalte, aber findet in ihnen, durch die Vermittlung des Autors, erstaunlich intensive Destillate eines sagenhaft unfreien Denkens, das, wie der Geist jeder an Katastrophen und Umstürzen reichen Epoche, sich rasend schnell um sich selbst dreht und mit rätselhafter Energie Bilder um Bilder um Bilder generiert, die alle nichts Wirkliches mehr zu beschreiben scheinen, aber dafür die inneren Räume ihrer Urheber dreidimensional ausleuchten.
Diese Faszination mit den trostlosen Propheten machte mich so blind für alles andere, dass ich mir, als ich im Dezember 2020 einen vermeintlichen Zeitreisenden auf Tiktok vorhersagen hörte, es werde am 6. Jänner 2021 in den USA zu einem großen Angriff kommen, alle sollten sich für den Krieg wappnen, nur dachte: Ah ja, klar, whatever, witzig. Er trug seine Sätze ja genau so bedauernd und lustlospflichtbewusst vor wie all die anderen Zeitreisenden. Dieser Mann war, wie sich zeigte, gar kein Zeitreisender gewesen. Am 6. Jänner geschah die Erstürmung des Capitols in Washington durch bewaffnete Nationalisten. Der Mann hatte lediglich seine Verbündeten informiert.
Geboren 1982 in Graz. Studierte Mathematik und Germanistik. Preis der Leipziger Buchmesse 2011 für den Erzählband „Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes“. Wilhelm-Raabe-Literaturpreis 2015 für den Roman „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“. Zuletzt erschienen: „Die Bienen und das Unsichtbare“. (Foto: Max Zerrahn/Suhrkamp Verlag)