Von Erdogan˘ an die Grenze gekarrt
Vor einem Jahr öffnete die Türkei ihre Landgrenze zur EU für Flüchtlinge. Was wurde aus den Menschen, die Präsident Erdo˘gan damals an die griechische Grenze karren ließ und die wieder umkehren mussten? Eine Reportage.
AUSLAND
Was wurde aus den Flüchtlingen, die die Türkei vor einem Jahr zur EU-Grenze geführt hatte?
Ali glaubte, er hätte es geschafft. Vor einem Jahr hörte der junge Senegalese in Istanbul, dass der türkische Präsident, Recep Tayyip Erdogan,˘ die Grenze zu Griechenland für Flüchtlinge geöffnet habe. Zusammen mit Freunden machte sich Ali auf den Weg und überquerte den Grenzfluss Maritsa. Zuerst lief alles nach Plan. Die Gruppe versteckte sich eine Woche lang in einem Wald nahe der Kleinstadt Komotini. Von dort aus wollte sie weiter nach Westeuropa. „Deutschland und die Niederlande sind meine Traumländer“, sagt Ali. Doch die Reise dorthin blieb ein Traum. Griechische Soldaten entdeckten die Gruppe im Wald und schickten sie in die Türkei zurück. Nun wartet Ali auf die nächste Chance.
Was für Ali und seine Freunde ein Grund zur Hoffnung war, war für Europa ein Schock. Am 28. Februar vergangenen Jahres fuhren in Istanbul erste Reisebusse voller Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan und anderen Ländern in die Grenzstadt Edirne ab, wo die Menschen an die Maritsa marschierten. Die türkischen Grenztruppen ließen sie passieren.
Erdogan˘ hatte schon länger angekündigt, er werde die „Tore öffnen“und Hunderttausende Flüchtlinge nach Europa schicken. Der türkische Präsident ärgerte sich über die mangelnde Unterstützung für die türkische Politik in Syrien. Wenige Wochen vor der Grenzöffnung hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel bei einem Besuch in der Türkei noch zusätzliche deutsche und europäische Hilfe für die Versorgung von 3,6 Millionen Syrern versprochen. Doch das reichte Erdogan˘ nicht. Er ließ über seinen Sprecher verkünden, die Türkei werde die Flüchtlinge nicht mehr aufhalten. Innerhalb weniger Tage sammelten sich Zehntausende Menschen in Edirne.
Traum von Deutschland
Ali, der seinen wahren Namen nicht genannt wissen will, hatte auf eine solche Chance gewartet. Der 28-jährige ist seit sechs Jahren auf dem Weg aus seiner Heimat Senegal nach Europa. Zunächst versuchte er, von Marokko aus in die EU zu kommen, fünf Jahre später hatte er so viel Geld beisammen, dass er in die Türkei weiterziehen konnte. „Ich muss meine Familie daheim unterstützen“, sagt er der „Presse“. Im Senegal sieht er keine Zukunft. Er will in Europa studieren. In Marokko hat er Arabisch gelernt, außerdem kann er Englisch, Spanisch und Französisch. „Ich könnte in Deutschland als Dolmetscher arbeiten“, sagt er.
Freunde Alis sind längst in Düsseldorf angekommen und als Flüchtlinge anerkannt. „Die haben es geschafft“, sagt Ali. Über Albanien und andere Balkanländer schlugen sich Alis Freunde in die Bundesrepublik durch. „Wir hatten uns in mehrere Gruppen aufgeteilt. Sie sind durchgekommen, doch wir wurden geschnappt“, sagt Ali. „Pech, Pech, Pech.“
„Sie schlugen mich“
Im Wald bei Komotini war für Ali Endstation. Die Griechen und die anderen Europäer, die die Bilder der Flüchtlingskolonnen von 2015 vor Augen hatten, reagierten mit Härte auf die Ankunft der Migranten. Ali berichtet, die Griechen hätten ihn und seine Freunde nach der Festnahme äußerst brutal behandelt. „Sie schlugen mich, sie nahmen mir das Handy, das Geld und die Kleider ab“, sagt er. „Sie hielten mich zwei Tage auf einer Polizeiwache fest und schickten mich zurück in die Türkei.“
Griechische Polizisten und Soldaten riegelten die Grenze entlang der Maritsa mithilfe der europäischen Grenzschutzbehörde Frontex ab. Die damals neue EU-Kommissionschefin, Ursula von der
Leyen, reiste zu einem Solidaritätsbesuch nach Griechenland und warf der Türkei vor, die Flüchtlinge mit falschen Versprechen in eine „verzweifelte Situation“gebracht zu haben. Der griechische Ministerpräsident, Kyriakos Mitsotakis, erklärte, sein Land werde sich von Erdogan˘ nicht erpressen lassen. Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen wurden bei Auseinandersetzungen mindestens zwei Flüchtlinge von griechischen Soldaten erschossen.
Erdogans˘ Regierung versuchte in den ersten Märztagen, den Europäern mit stark übertriebenen Flüchtlingszahlen Angst einzujagen. Rund 140.000 Flüchtlinge hätten innerhalb kurzer Zeit die Türkei verlassen, teilte Innenminister Süleyman Soylu mit. „Das ist erst der Anfang.“Als ein türkischer Journalist den Minister fragte, wie er auf diese Zahl komme, reagierte Soylu verärgert: „Auf welcher Seite stehen Sie eigentlich?“
Übertriebene Zahlen
Inzwischen ist klar, dass Soylus Zahlen nicht stimmten. Trotz der Grenzöffnung sind im vergangenen Jahr viel weniger Migranten in Griechenland angekommen als in den Vorjahren. Das UN-Flüchtlingshochkommissariat UNHCR beziffert die Zahl der Flüchtlinge, die über die türkische Landgrenze nach Griechenland gelangten, für ganz 2020 mit knapp 6000; ein Jahr zuvor waren es 15.000. In den ersten Tagen nach der Grenzöffnung fassten die griechischen Behörden rund 24.000 Migranten, die es über die Maritsa geschafft hatten, darunter Ali und seine Freunde. Sie mussten in die Türkei zurück.
Damit war nicht nur Alis Traum geplatzt. Auch Erdogans˘ Plan war gescheitert. Die Türkei sehe es nicht mehr ein, dass sie mit dem Flüchtlingsproblem alleingelassen werde, hatte seine Regierung am Tag der Grenzöffnung erklärt. Konkret verlangte Ankara die Unterstützung von USA und EU bei der Schaffung einer „Sicherheitszone“für Flüchtlinge auf syrischem Territorium. Der Westen lehnte den Plan ab. Die Flüchtlinge wurden so zu Schachfiguren in einer Auseinandersetzung zwischen der Türkei und ihren westlichen Verbündeten. Ankara verlor das Spiel.
Nach etwa einer Woche schloss die Türkei die Landgrenze wieder und brachte die noch in Edirne lagernden Flüchtlinge nach Istanbul und in andere Städte zurück. Offiziell wurde dies mit der Ausbreitung des Coronavirus begründet, doch in Wahrheit lag es an der entschiedenen Haltung der EU: Es gab für die Flüchtlinge kein Durchkommen. An der türkisch-griechischen Seegrenze blieb die Lage ohnehin ruhig. Trotz der Grenzöffnung hatte Erdogan˘ die türkische Küstenwache angewiesen, in der Ägäis alle Flüchtlingsboote auf dem Weg über die Ägäis nach Griechenland zu stoppen. Innenminister Soylu sagte, Erdogan˘ sei dieses Thema sehr wichtig: Offenbar wollte der türkische Präsident verhindern, dass Boote kentern und Frauen und Kinder ertrinken.
Zwar droht Erdogan˘ auch heute hin und wieder damit, Flüchtlinge nach Europa zu schicken, doch die Rhetorik hat an Durchschlagskraft verloren. Seit einigen Monaten spricht der türkische Präsident sogar von einem Neuanfang in den Beziehungen zur EU, weil er ein gutes Verhältnis zum größten Handelspartner seines Landes braucht, um die heimische Wirtschaft aus der Krise zu holen. Brüssel hat die beim Flüchtlingsdeal von 2016 versprochenen sechs Milliarden Euro für die Türkei auf den Weg gebracht. Europa und Erdogans˘ Regierung wollen nun über eine Anschlussregelung verhandeln.
„Wir wären alle tot“
Für Migranten wie Ali bedeutet das, dass ihre Chancen auf ein Durchkommen nach Europa weiter sinken. Ein halbes Dutzend Mal hat der junge Senegalese bereits versucht, nach Griechenland zu kommen, doch jedes Mal wurde er gefasst. Zuletzt wurde er von der griechischen Insel Kos zurück in die Türkei abgeschoben: Die griechische Armee habe ihn und andere Flüchtlinge in ein Boot gesetzt und in türkische Gewässer bugsiert. „Wenn uns die türkische Küstenwache nicht bemerkt hätte, wären wir alle tot“, sagt Ali.
Griechenland bestreitet, dass seine Armee die Flüchtlinge mit den völkerrechtlich verbotenen „Pushback“-Aktionen in die Türkei abschiebt, doch Flüchtlinge und unabhängige Medien berichten immer wieder von dieser Praxis. Der Grenzschutzagentur Frontex wird vorgeworfen, Fälle von „Pushback“zu vertuschen.
Schwarzarbeit auf Plantagen
Ali will trotzdem nicht aufgeben. Er schlägt sich in der Türkei mit Gelegenheitsarbeiten durch, einmal als Erntehelfer auf Teeplantagen am Schwarzen Meer, einmal als Stallbursche auf einem Viehbetrieb. Mit dem Geld aus seinem letzten Job finanzierte er die gescheiterte Überfahrt nach Kos. Jetzt wartet er auf neue Gelegenheiten. „Ich will nicht in der Türkei bleiben“, sagt Ali. „Wenn ich noch einmal eine Chance habe, nach Europa zu kommen, werde ich es wieder versuchen. Bis ich es schaffe.“