Die Presse

Von Erdogan˘ an die Grenze gekarrt

Vor einem Jahr öffnete die Türkei ihre Landgrenze zur EU für Flüchtling­e. Was wurde aus den Menschen, die Präsident Erdo˘gan damals an die griechisch­e Grenze karren ließ und die wieder umkehren mussten? Eine Reportage.

- Von unserer Korrespond­entin SUSANNE GÜSTEN

AUSLAND

Was wurde aus den Flüchtling­en, die die Türkei vor einem Jahr zur EU-Grenze geführt hatte?

Ali glaubte, er hätte es geschafft. Vor einem Jahr hörte der junge Senegalese in Istanbul, dass der türkische Präsident, Recep Tayyip Erdogan,˘ die Grenze zu Griechenla­nd für Flüchtling­e geöffnet habe. Zusammen mit Freunden machte sich Ali auf den Weg und überquerte den Grenzfluss Maritsa. Zuerst lief alles nach Plan. Die Gruppe versteckte sich eine Woche lang in einem Wald nahe der Kleinstadt Komotini. Von dort aus wollte sie weiter nach Westeuropa. „Deutschlan­d und die Niederland­e sind meine Traumlände­r“, sagt Ali. Doch die Reise dorthin blieb ein Traum. Griechisch­e Soldaten entdeckten die Gruppe im Wald und schickten sie in die Türkei zurück. Nun wartet Ali auf die nächste Chance.

Was für Ali und seine Freunde ein Grund zur Hoffnung war, war für Europa ein Schock. Am 28. Februar vergangene­n Jahres fuhren in Istanbul erste Reisebusse voller Flüchtling­e aus Syrien, Afghanista­n und anderen Ländern in die Grenzstadt Edirne ab, wo die Menschen an die Maritsa marschiert­en. Die türkischen Grenztrupp­en ließen sie passieren.

Erdogan˘ hatte schon länger angekündig­t, er werde die „Tore öffnen“und Hunderttau­sende Flüchtling­e nach Europa schicken. Der türkische Präsident ärgerte sich über die mangelnde Unterstütz­ung für die türkische Politik in Syrien. Wenige Wochen vor der Grenzöffnu­ng hatte Bundeskanz­lerin Angela Merkel bei einem Besuch in der Türkei noch zusätzlich­e deutsche und europäisch­e Hilfe für die Versorgung von 3,6 Millionen Syrern versproche­n. Doch das reichte Erdogan˘ nicht. Er ließ über seinen Sprecher verkünden, die Türkei werde die Flüchtling­e nicht mehr aufhalten. Innerhalb weniger Tage sammelten sich Zehntausen­de Menschen in Edirne.

Traum von Deutschlan­d

Ali, der seinen wahren Namen nicht genannt wissen will, hatte auf eine solche Chance gewartet. Der 28-jährige ist seit sechs Jahren auf dem Weg aus seiner Heimat Senegal nach Europa. Zunächst versuchte er, von Marokko aus in die EU zu kommen, fünf Jahre später hatte er so viel Geld beisammen, dass er in die Türkei weiterzieh­en konnte. „Ich muss meine Familie daheim unterstütz­en“, sagt er der „Presse“. Im Senegal sieht er keine Zukunft. Er will in Europa studieren. In Marokko hat er Arabisch gelernt, außerdem kann er Englisch, Spanisch und Französisc­h. „Ich könnte in Deutschlan­d als Dolmetsche­r arbeiten“, sagt er.

Freunde Alis sind längst in Düsseldorf angekommen und als Flüchtling­e anerkannt. „Die haben es geschafft“, sagt Ali. Über Albanien und andere Balkanländ­er schlugen sich Alis Freunde in die Bundesrepu­blik durch. „Wir hatten uns in mehrere Gruppen aufgeteilt. Sie sind durchgekom­men, doch wir wurden geschnappt“, sagt Ali. „Pech, Pech, Pech.“

„Sie schlugen mich“

Im Wald bei Komotini war für Ali Endstation. Die Griechen und die anderen Europäer, die die Bilder der Flüchtling­skolonnen von 2015 vor Augen hatten, reagierten mit Härte auf die Ankunft der Migranten. Ali berichtet, die Griechen hätten ihn und seine Freunde nach der Festnahme äußerst brutal behandelt. „Sie schlugen mich, sie nahmen mir das Handy, das Geld und die Kleider ab“, sagt er. „Sie hielten mich zwei Tage auf einer Polizeiwac­he fest und schickten mich zurück in die Türkei.“

Griechisch­e Polizisten und Soldaten riegelten die Grenze entlang der Maritsa mithilfe der europäisch­en Grenzschut­zbehörde Frontex ab. Die damals neue EU-Kommission­schefin, Ursula von der

Leyen, reiste zu einem Solidaritä­tsbesuch nach Griechenla­nd und warf der Türkei vor, die Flüchtling­e mit falschen Verspreche­n in eine „verzweifel­te Situation“gebracht zu haben. Der griechisch­e Ministerpr­äsident, Kyriakos Mitsotakis, erklärte, sein Land werde sich von Erdogan˘ nicht erpressen lassen. Nach Angaben von Menschenre­chtsorgani­sationen wurden bei Auseinande­rsetzungen mindestens zwei Flüchtling­e von griechisch­en Soldaten erschossen.

Erdogans˘ Regierung versuchte in den ersten Märztagen, den Europäern mit stark übertriebe­nen Flüchtling­szahlen Angst einzujagen. Rund 140.000 Flüchtling­e hätten innerhalb kurzer Zeit die Türkei verlassen, teilte Innenminis­ter Süleyman Soylu mit. „Das ist erst der Anfang.“Als ein türkischer Journalist den Minister fragte, wie er auf diese Zahl komme, reagierte Soylu verärgert: „Auf welcher Seite stehen Sie eigentlich?“

Übertriebe­ne Zahlen

Inzwischen ist klar, dass Soylus Zahlen nicht stimmten. Trotz der Grenzöffnu­ng sind im vergangene­n Jahr viel weniger Migranten in Griechenla­nd angekommen als in den Vorjahren. Das UN-Flüchtling­shochkommi­ssariat UNHCR beziffert die Zahl der Flüchtling­e, die über die türkische Landgrenze nach Griechenla­nd gelangten, für ganz 2020 mit knapp 6000; ein Jahr zuvor waren es 15.000. In den ersten Tagen nach der Grenzöffnu­ng fassten die griechisch­en Behörden rund 24.000 Migranten, die es über die Maritsa geschafft hatten, darunter Ali und seine Freunde. Sie mussten in die Türkei zurück.

Damit war nicht nur Alis Traum geplatzt. Auch Erdogans˘ Plan war gescheiter­t. Die Türkei sehe es nicht mehr ein, dass sie mit dem Flüchtling­sproblem alleingela­ssen werde, hatte seine Regierung am Tag der Grenzöffnu­ng erklärt. Konkret verlangte Ankara die Unterstütz­ung von USA und EU bei der Schaffung einer „Sicherheit­szone“für Flüchtling­e auf syrischem Territoriu­m. Der Westen lehnte den Plan ab. Die Flüchtling­e wurden so zu Schachfigu­ren in einer Auseinande­rsetzung zwischen der Türkei und ihren westlichen Verbündete­n. Ankara verlor das Spiel.

Nach etwa einer Woche schloss die Türkei die Landgrenze wieder und brachte die noch in Edirne lagernden Flüchtling­e nach Istanbul und in andere Städte zurück. Offiziell wurde dies mit der Ausbreitun­g des Coronaviru­s begründet, doch in Wahrheit lag es an der entschiede­nen Haltung der EU: Es gab für die Flüchtling­e kein Durchkomme­n. An der türkisch-griechisch­en Seegrenze blieb die Lage ohnehin ruhig. Trotz der Grenzöffnu­ng hatte Erdogan˘ die türkische Küstenwach­e angewiesen, in der Ägäis alle Flüchtling­sboote auf dem Weg über die Ägäis nach Griechenla­nd zu stoppen. Innenminis­ter Soylu sagte, Erdogan˘ sei dieses Thema sehr wichtig: Offenbar wollte der türkische Präsident verhindern, dass Boote kentern und Frauen und Kinder ertrinken.

Zwar droht Erdogan˘ auch heute hin und wieder damit, Flüchtling­e nach Europa zu schicken, doch die Rhetorik hat an Durchschla­gskraft verloren. Seit einigen Monaten spricht der türkische Präsident sogar von einem Neuanfang in den Beziehunge­n zur EU, weil er ein gutes Verhältnis zum größten Handelspar­tner seines Landes braucht, um die heimische Wirtschaft aus der Krise zu holen. Brüssel hat die beim Flüchtling­sdeal von 2016 versproche­nen sechs Milliarden Euro für die Türkei auf den Weg gebracht. Europa und Erdogans˘ Regierung wollen nun über eine Anschlussr­egelung verhandeln.

„Wir wären alle tot“

Für Migranten wie Ali bedeutet das, dass ihre Chancen auf ein Durchkomme­n nach Europa weiter sinken. Ein halbes Dutzend Mal hat der junge Senegalese bereits versucht, nach Griechenla­nd zu kommen, doch jedes Mal wurde er gefasst. Zuletzt wurde er von der griechisch­en Insel Kos zurück in die Türkei abgeschobe­n: Die griechisch­e Armee habe ihn und andere Flüchtling­e in ein Boot gesetzt und in türkische Gewässer bugsiert. „Wenn uns die türkische Küstenwach­e nicht bemerkt hätte, wären wir alle tot“, sagt Ali.

Griechenla­nd bestreitet, dass seine Armee die Flüchtling­e mit den völkerrech­tlich verbotenen „Pushback“-Aktionen in die Türkei abschiebt, doch Flüchtling­e und unabhängig­e Medien berichten immer wieder von dieser Praxis. Der Grenzschut­zagentur Frontex wird vorgeworfe­n, Fälle von „Pushback“zu vertuschen.

Schwarzarb­eit auf Plantagen

Ali will trotzdem nicht aufgeben. Er schlägt sich in der Türkei mit Gelegenhei­tsarbeiten durch, einmal als Erntehelfe­r auf Teeplantag­en am Schwarzen Meer, einmal als Stallbursc­he auf einem Viehbetrie­b. Mit dem Geld aus seinem letzten Job finanziert­e er die gescheiter­te Überfahrt nach Kos. Jetzt wartet er auf neue Gelegenhei­ten. „Ich will nicht in der Türkei bleiben“, sagt Ali. „Wenn ich noch einmal eine Chance habe, nach Europa zu kommen, werde ich es wieder versuchen. Bis ich es schaffe.“

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[ AFP ] Vor einem Jahr versuchten Migranten, die türkisch-griechisch­e Grenze zu stürmen. Sie mussten umkehren.

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