Neues Album von Nick Cave
Duo-Album. Er sei zurück in der alten Zeit, singt Nick Cave: Gemeinsam mit Warren Ellis entdeckt er als 63-Jähriger die Dämonen wieder, die ihn als jungen Mann quälten.
FEUILLETON
Der 63-Jährige entdeckt auf „Carnage“die Dämonen, die ihn als jungen Mann quälten.
„Du kannst nicht tiefer fallen als nur in Gottes Hand“, heißt es in einem lutherischen Kirchenlied. Die deutsche Bischöfin Margot Käßmann zitierte diese Zeile (ohne das „nur“), als sie wegen Alkohol am Steuer zurücktrat. Ihr Gott ist freundlich. Im Gegensatz zu dem Gott, den Nick Cave meint, wenn er im gleichnamigen Lied von der „hand of god“singt. Es ist ein rächender, ein unheimlicher Gott. Cave, im anglikanischen Glauben erzogen, hat ihn 1997 in seinem Song „Into My Arms“offensiv geleugnet („I don’t believe in an interventionist god“), doch er lässt ihn nicht los.
Quälende Visionen von Schuld und Sühne hatten Nick Caves Frühwerk bestimmt, in den letzten 20 Jahren sind sie oft einer süßsauer verzückten Liebesreligion gewichen, jetzt sind sie wieder da. Er sei zurück in der alten Zeit, formuliert er es in „Old Time“, unter einer „biblical sun“. Und gleich wird, wie einst in „Tupelo“, ein Kind geboren, auf der bebenden Erde. Und da ist er auch wieder, der rastlose, besessene, rituelle Rhythmus, da ist sie, die sengende Gitarre, die einst Blixa Bargeld spielte. Jetzt spielt sie Warren Ellis, wie Cave gebürtiger Australier, eigentlich Geiger, ein älterer Herr mit wirrem Haar und irrem Blick, der seit 1993 führendes Mitglied in Caves Band The Bad Seeds ist. Das Album „Carnage“hat Cave mit ihm im Duo aufgenommen, unter Coronabedingungen.
Kein Urlaub in Albuquerque!
Dass diese auch die Texte geprägt haben, daran lässt Nick Cave keinen Zweifel: „We won’t get to anywhere anytime this year, darling“, singt er in „Albuquerque“, was man frei mit „Heuer müssen wir halt Urlaub in Balkonien machen, Schatz“übersetzen kann, was wiederum zum gehörig wehleidigen Song „Balcony Man“passt. Aber wie kommt er auf Albuquerque? Diese Stadt in New Mexico wird in „By The Time I Get To Phoenix“erwähnt, einem Song, den Cave in seiner furiosen Zeit interpretiert hat. Der Titel kommt nun auch in „Old Time“vor, offenbar geht er Cave oft durch den Kopf: Dieser 63-jährige Mann, den vor fünf Jahren der Tod seines fünfzehnjährigen Sohnes jäh aus dem Familienidyll riss, träumt sich zurück in seine wüste Zeit als junger Mann.
Freilich, ganz so wild geht er es heute nicht an, so arg hetzt ihn der Dämon längst nicht mehr. Die Drogensucht und den Frauenhass (respektive die Angst vor den Frauen), die sein Frühwerk genauso geprägt haben wie der Sündenwahn, findet man auf
„Carnage“nicht. Dafür ein religiöses Leitmotiv: Das himmlische Königreich kommt gleich dreimal vor, in „Hand of God“– mit seinen dramatischen Dissonanzen das vielleicht packendste Stück des Albums – und in der „Hymn“, in die zwei Songs münden, das feierlich todesnahe „Lavender Fields“und „White Elephant“, das offenbar (auch) ein Kommentar zu „Black Lives Matter“ist: In der ersten Strophe sehen wir einen weißen Jäger, der bereit ist, auf Menschen zu schießen, in der zweiten kniet ein Protestierer auf dem Hals einer Statue, die „I can’t breathe“sagt, worauf der Protestierer „Jetzt weißt du, wie sich das anfühlt“sagt und die Statue ins Meer wirft. In der dritten Strophe wird der Sänger zu einer Botticelli-Venus mit Penis, dann zum Amokschützen, bevor die finale Hymne ertönt, mit Glocken und viel Lärm.
Abschied von Ophelia
Auf andere Art dramatisch ist „Shattered Ground“. Nick Cave träumt sich den Mond als junge Frau mit blassen Augen und blasser Haut und langem Haar, deren Wahnsinn sich mit seinem eigenen Wahnsinn ergänzt: eine Ophelia, die ihn allein lässt, worauf es ihn in Stücke reißt . . . Hier verliert Caves Stimme jede Altersmilde, er zerrt wie früher an jeder Silbe. Doch der Furor währt nur kurz, mündet in ein pathetisches Abschiedslied.
Ironisiert er sein Pathos? Im Titelstück wirkt es so, wenn er – übrigens wieder auf dem Balkon verortet – „It’s only love“schwelgt und dabei fast wie Neil Diamond klingt. Doch auch in diesem Idyll hat das barfüßige Kind Feuer im Haar, und die Sonne explodiert. Gemetzel! Und dann fällt Nick Cave, nein: nicht in Gottes Hand, aber in die archaische Bilderwelt des Blues: Die Liebe, singt er, kommt wie eine Eisenbahn, die im Regen durch die Berge rollt. So wird die Rastlosigkeit zur Ruhe. Schönes Album.