Die Presse

Unter den Blumen auf dem schönsten römischen Friedhof

Sein Name sei in Wasser geschriebe­n, heißt es auf dem Grabstein des britischen Dichters John Keats. Was für ein Irrtum!

- VON NORBERT MAYER E-Mails an: norbert.mayer@diepresse.com

Antonio Gramsci und Carlo Emilio Gadda ruhen in der Nähe.

So manche Träne wurde im poetischen Lesekreis des Gegengifts diese Woche vergossen: Vor 200 Jahren starb der Dichter John Keats. Er wurde 25 Jahre alt. Seine Lunge machte nicht mehr mit, er ahnte das Ende, wünschte sich nur noch ein stilles Grab, fühlte in Nachtgedan­ken bereits die kalte Erde über sich und die Gänseblümc­hen, die daraus wachsen würden: Endlich still!

Dieses tief traurige Schicksal eines Superstars der späten Romantik passt perfekt zu verseuchte­n Zeiten. Man muss nicht jung sein, sondern sich allein an die eigene Jugend erinnern, um das Herz zu spüren, bei der „Ode an die Nachtigall“, der Hymne an den Herbst oder auch nur bei ruhelosen Gedanken einer bleichen Gestalt an die gnadenlose schöne Dame – der einsame Ritter am See, im verwelkten Riedgras. „And no birds sing.“Wie heißt es so schön und final in der Ode auf eine griechisch­e Urne: „Beauty is truth, truth beauty“– mehr bedarf ’s nicht an Wissen auf dieser Erde. Die Schönheit wird die Welt regieren, und Keats ist einer ihrer Könige.

Wem die eigene Erfahrung zu solchen Gefühlen fehlt, wer gar das leise Lesen von Poesie als sittlich verwirrend oder bloß als zu mühsam empfindet, der kann auch Jane Campions Film „Bright Star“studieren. In diesem Melodram spielt Ben Whishaw den Dichter und Abbie Cornish dessen geliebte Fanny, die am Ende auf vertrauten Wegen das Sonett „Heller Stern“rezitiert. Solche Momente können sensible Seelen schon dazu bringen, die Melancholi­e des Abschieds innig zu besingen.

Wir Praktiker im Erdberger Klub der toten Dichter wenden uns jedoch lieber positiven Gedanken zu, die uns mit John Keats verbinden. Sein Grab befindet sich auf dem schönsten Friedhof Roms, auf dem protestant­ischen, dessen Tote mehr Esprit besitzen als die meisten Lebenden. Nicht, dass man sofort sterben wollte, aber falls das passierte, wäre der „Cimitero Acattolico“, wie manche Einheimisc­he den englischen nennen, eine Wunsch-Adresse für die letzte Ruhe.

Dort, im Arbeitervi­ertel Testaccio am Rand der historisch­en Stadt, die allumfasse­nd alle Erdkreise beanspruch­t, liegt man exklusiv und doch in reizender Gesellscha­ft. Man kann zum Beispiel das Grab von Percy B. Shelley besuchen, der bald nach Keats starb. (2022 werden wir also ebenfalls weinen, gefasster allerdings bei diesem Freigeist.) Der Philosoph Antonio Gramsci und der Dichter Carlo Emilio Gadda ruhen in der Nähe. Unlängst hat sich der genussfreu­dige sizilianis­che Erzähler Andrea Camilleri zu ihnen gesellt. Sie alle strafen Lügen, was auf dem Grabstein des 1821 gestorbene­n „jungen englischen Poeten“steht, der dort ungenannt bleibt: „Here lies One Whose Name was writ in Water“.

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