Die Presse

Hier hört man den anderen Anton Bruckner

Chormusik. Der fabelhafte Lettische Rundfunkch­or führt auf seiner neuen CD, beginnend mit der Messe des Zwanzigjäh­rigen, durch die Klangwelt des großen Symphonike­rs mittels kleiner Formen von Vokalmusik.

- VON WILHELM SINKOVICZ

Dieser Tage kehrt Christian Thielemann nach Wien zurück, um eine pandemiebe­dingte Lücke im philharmon­ischen Kalender auszunütze­n: Das Orchester wäre jetzt auf Reisen gewesen. Die Absage macht’s möglich, dass der Bruckner-Zyklus schneller weitergefü­hrt wird als geplant. Für CD und DVD entsteht die erste Gesamtaufn­ahme von Bruckners Symphonien unter der Leitung eines Dirigenten durch die Wiener Philharmon­iker – erstaunlic­h, dass es so lang gedauert hat, zählt Bruckner doch zu den wichtigste­n Komponiste­n im philharmon­ischen Repertoire. Freilich: Diese Aussage trifft nur auf einige, wenige Werke zu. Alle neun – oder besser: elf – Symphonien gehören nicht zum Standard, zu schweigen von den verschiede­nen „Fassungen“der einzelnen Werke.

Und viel weniger noch wissen Musikfreun­de von den sonstigen Kompositio­nen Bruckners. Sehen wir vom „Te Deum“ab und vielleicht auch dem Streichqui­ntett, das hie und da in Kammermusi­k-Programmen auftaucht, ist dieser Komponist ein beinah unbeschrie­benes Blatt.

Eine Neuerschei­nung wie die eben bei Ondine herausgebr­achte Aufnahme Brucknersc­her Chorwerke schließt daher eine Lücke, vor allem weil sie innerhalb des ohnehin ungewöhnli­chen Repertoire­s noch einmal weit hinunter in die Schublade der vernachläs­sigten Bruckner-Partituren kramt.

Die bedeutends­ten der Motetten, die auf dieser CD zu hören sind, kennen Sammler vermutlich, weil sie Eugen Jochum einst im Rahmen seiner legendären Bruckner-Aufnahmen als (willkommen­e) Füllsel für frei gebliebene Seiten der Langspielp­latten-Editionen einiger Symphonien verwendet hat.

Aber Sigvards Kjava hat mit seinem fabelhafte­n Lettischen Rundfunkch­or eine Zeitreise durch die musikalisc­he Karriere Anton Bruckners unternomme­n, die ja nicht erst mit der (späten) Veröffentl­ichung der Ersten Symphonie begann: Der tief katholisch­e Meister, der als Orgel-Improvisat­or Weltruhm erlangen konnte, uns aber kein einziges großes Orgelwerk hinterlass­en hat, widmete seine frühesten Kompositio­nen – wie danach noch ausdrückli­ch seine unvollende­te Neunte Symphonie – dem „Lieben Gott“. So hören wir hier zunächst eine „Kronstorfe­r Messe“aus der Feder eines gerade 20-jährigen jungen Mannes mit Hang zur volkslieda­rtig schlichten Melodik.

Wir hören dann aber auch, wie Bruckner diese Melodik bald mittels raffiniert­er harmonisch­er Rückungen in die Gefilde fantastisc­her Klang-Visionen transferie­rte, von der sanft schwebende­n Ekstase im „Ave Maria“oder dem „Virga Jesse“hin zu dem fesselnden emotionale­n und dynamische­n Crescendo von „Tota pulchra es“. Da verrät sich in dem von Orgelklang umrauschte­n Höhepunkt der Symphonike­r, der mit „Vexilla regis“1892 noch ein letztes Chorwerk publiziert­e. Der lettische Chor macht dieses Programm mit Hingabe und atemberaub­ender Sicherheit zu einem Fest purer Schönheit.

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Anton Bruckner: Motetten Ondine
Lettischer Rundfunkch­or Anton Bruckner: Motetten Ondine

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