Hier hört man den anderen Anton Bruckner
Chormusik. Der fabelhafte Lettische Rundfunkchor führt auf seiner neuen CD, beginnend mit der Messe des Zwanzigjährigen, durch die Klangwelt des großen Symphonikers mittels kleiner Formen von Vokalmusik.
Dieser Tage kehrt Christian Thielemann nach Wien zurück, um eine pandemiebedingte Lücke im philharmonischen Kalender auszunützen: Das Orchester wäre jetzt auf Reisen gewesen. Die Absage macht’s möglich, dass der Bruckner-Zyklus schneller weitergeführt wird als geplant. Für CD und DVD entsteht die erste Gesamtaufnahme von Bruckners Symphonien unter der Leitung eines Dirigenten durch die Wiener Philharmoniker – erstaunlich, dass es so lang gedauert hat, zählt Bruckner doch zu den wichtigsten Komponisten im philharmonischen Repertoire. Freilich: Diese Aussage trifft nur auf einige, wenige Werke zu. Alle neun – oder besser: elf – Symphonien gehören nicht zum Standard, zu schweigen von den verschiedenen „Fassungen“der einzelnen Werke.
Und viel weniger noch wissen Musikfreunde von den sonstigen Kompositionen Bruckners. Sehen wir vom „Te Deum“ab und vielleicht auch dem Streichquintett, das hie und da in Kammermusik-Programmen auftaucht, ist dieser Komponist ein beinah unbeschriebenes Blatt.
Eine Neuerscheinung wie die eben bei Ondine herausgebrachte Aufnahme Brucknerscher Chorwerke schließt daher eine Lücke, vor allem weil sie innerhalb des ohnehin ungewöhnlichen Repertoires noch einmal weit hinunter in die Schublade der vernachlässigten Bruckner-Partituren kramt.
Die bedeutendsten der Motetten, die auf dieser CD zu hören sind, kennen Sammler vermutlich, weil sie Eugen Jochum einst im Rahmen seiner legendären Bruckner-Aufnahmen als (willkommene) Füllsel für frei gebliebene Seiten der Langspielplatten-Editionen einiger Symphonien verwendet hat.
Aber Sigvards Kjava hat mit seinem fabelhaften Lettischen Rundfunkchor eine Zeitreise durch die musikalische Karriere Anton Bruckners unternommen, die ja nicht erst mit der (späten) Veröffentlichung der Ersten Symphonie begann: Der tief katholische Meister, der als Orgel-Improvisator Weltruhm erlangen konnte, uns aber kein einziges großes Orgelwerk hinterlassen hat, widmete seine frühesten Kompositionen – wie danach noch ausdrücklich seine unvollendete Neunte Symphonie – dem „Lieben Gott“. So hören wir hier zunächst eine „Kronstorfer Messe“aus der Feder eines gerade 20-jährigen jungen Mannes mit Hang zur volksliedartig schlichten Melodik.
Wir hören dann aber auch, wie Bruckner diese Melodik bald mittels raffinierter harmonischer Rückungen in die Gefilde fantastischer Klang-Visionen transferierte, von der sanft schwebenden Ekstase im „Ave Maria“oder dem „Virga Jesse“hin zu dem fesselnden emotionalen und dynamischen Crescendo von „Tota pulchra es“. Da verrät sich in dem von Orgelklang umrauschten Höhepunkt der Symphoniker, der mit „Vexilla regis“1892 noch ein letztes Chorwerk publizierte. Der lettische Chor macht dieses Programm mit Hingabe und atemberaubender Sicherheit zu einem Fest purer Schönheit.