Die Sehnsucht nach dem Landleben
Gesellschaft. Es ist ein romantisches Relikt, das in der Geschichte wellenförmig auftaucht und wieder verschwindet – die Sehnsucht des Städters nach Dorfleben und reiner Natur.
Was für ein Menschenbild haben wir, wohin bewegt sich unsere Gesellschaft, wie wollen wir zusammenleben und welche Werte sind bedeutsam für uns? Es gibt nur wenige Gegenwartsautoren, die sich so intensiv mit diesen Fragen beschäftigen wie Juli Zeh. Der Literaturstar ist vor 15 Jahren aus Leipzig in ein 300-Seelen-Dorf gezogen. Sie und ihr Mann sind über eine Immobilienanzeige „da reingerutscht“, sagt sie. Im März wird von ihr ein Roman erscheinen, „Über Menschen“, der eine Frau zeigt, die auf der dringenden Suche nach Tapetenwechsel mit ihrem kleinen Hund aufs Land zieht, in ein brandenburgisches Nirgendwo. Sie hat den Lockdown in der Stadt satt und sucht Antwort auf die Frage, wann die Welt eigentlich so durcheinandergeraten ist.
Juli Zeh schreibt Bücher über Dinge, die uns beschäftigen, zum Beispiel über den Traum digitalaffiner Großstädter, die es eigentlich ganz schön fänden, ihre Bürojobs unter Apfelbäumen zu erledigen und dabei die spielenden Kinder unter Aufsicht zu haben. Der Traum trat in der kalten Jahreszeit in den Hintergrund, doch er wird im Frühling wieder da sein: Geschlossene Restaurants, kein Theater, keine Arbeit im Büro, viel, was für die Stadt spricht, ist nicht verfügbar. Und drinnen, in den zu teuren Wohnungen ist es immer zu eng. Bis in die Gegenwart hinein ging man davon aus, dass nichts den langfristigen Megatrend der Urbanisierung aufhalten kann. Seit Ausbruch der Pandemie ist das nicht mehr so sicher.
Unterlegenheitsgefühl auf dem Land
Jene geschichtliche Epoche, in der das Leben auf dem Land als beschränkt, borniert und rückständig galt, währte über Jahrtausende. Sie begann mit der Entstehung von Städten in Hochkulturen und den sich ergebenden unterschiedlichen Lebensformen. Die Stadt stand für handwerkliche Spezialisierung und Arbeitsteilung, für Herrschaft, Reichtum, Gelehrsamkeit, aber auch Naturferne und Arroganz. Das Dorf stand für Selbstversorgung und räumliche Einheit von Familie und Werkstatt, für ein selbstgenügsames, naturnahes Leben, das verstand, mit dem Vorhandenen gut auszukommen und die Natur nicht rücksichtslos auszubeuten. Der Mangel an Reichtum, Bildung und beruflicher Spezialisierung wurde als Unterlegenheit und Rückständigkeit gedeutet. Kultur wurde gleichgesetzt mit städtischer Kultur, mit urbaner Neugier und Innovationsbereitschaft.
Je stärker sich die industrielle Produktion und damit verbunden das städtische Leben in Europa durchsetzten, desto mehr geriet das traditionsgebundene Landleben unter Druck. Es erschien schlicht als überholt und hinterwäldlerisch. Dort lebten eben die, die – teilweise starrsinnig – an ihren traditionellen Wirtschafts- und Lebensformen festhielten und sich vor den bedrohlich erscheinenden städtischen Lebensformen fürchteten. Da es die Innovativeren waren, die in die Stadt gingen, wurden die Dorfgemeinschaften geschwächt.
Diese Entwertung des dörflichen Lebens übersah vieles, nicht zuletzt, dass die landwirtschaftliche Lebensmittelproduktion die materielle Basis für das Überleben der städtischen Bevölkerung darstellte. Die landwirtschaftliche Pflege des Bodens über Generationen hinweg bedeutete zudem eine Stabilisierung der Kulturlandschaft, die Naturkatastrophen wie Hangrutschungen und Hochwasser zu vermeiden half.
Da es im herrschaftlich und landschaftlich stark differenzierten Europa keine einheitliche Macht gab, die die Vorherrschaft erobern konnte, gab es freilich auch beim Stadt-Land-Antagonismus unterschiedliche Ausformungen. Nirgends dominierten die Städte das Land hundertprozentig, oft entwickelte sich ein einigermaßen gleichberechtigtes Verhältnis. Extreme Lebenswelten wie die Alpen oder Skandinavien ermöglichten eigenständige Entwicklungen wie „Bauernrepubliken.“Auch das Land erwies sich als innovativ, war nicht generell dumpfe Provinz, sondern wirkte mit am Aufstieg Europas.
Mitte des 19. Jahrhunderts vollzog sich angesichts des (allzu) schnellen gesellschaftlichen Wandels im städtischen Bürgertum eine Kehrtwende. Als Anti-Position dazu besetzten viele das Unverfälscht-Traditionelle positiv, Wissenschaftler zogen durchs Land, um die alten Bräuche zu dokumentieren. Man begann, die Natur in Form der „schönen Landschaft“zu bewundern und zu verherrlichen. Schon ab 1780 liebte der Bürger den Spaziergang „vor den grauen Mauern der Stadt“(Osterszene in Faust I). Generationen später entdeckte er auch die Meeresküsten und die Alpen, die zuvor als bedrohlich gemieden worden waren. Nun sprachen die reiselustigen Engländer vom „delightful horror“der Bergesgipfel.
Die Menschen, die die ganze Zeit hier lebten, waren zunächst fassungslos, entdeckten die Fremden aber bald als Erwerbsquelle. Bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs wurde der gesamte ländliche Raum jenseits der hässlichen Industriestädte als schöne Landschaft wahrgenommen. Daraus entwickelte sich der Tourismus und, getragen vom Bildungsbürgertum, die Natur- und Heimatschutzideen. Damit wurde freilich der ländliche Raum ausschließlich aus der Sonntags- und Freizeitperspektive wahrgenommen, das war ein Zerrbild, das aus dem Land ein Idyll machte.
Schafft die Natur Glück?
Mit der zunehmenden Industrialisierung und Verstädterung Ende des 19. Jahrhunderts kam die Sorge auf: Die Städte, dekadent und unsittlich, wie sie nun mal sind, überwuchern alles, das romantische Ideal vom bäuerlichen Landleben ist gefährdet. Kulturpessimisten und Modernisierungskritiker, vom Professor bis zum Künstler, fanden zusammen, um dem entgegenzutreten. Im Zuge der Lebensreformbewegung um 1900 wurden vom Arbeitsplatz unabhängige Menschen dazu verleitet, die Stadt zu verlassen, es waren vor allem Maler, Bildhauer und Poeten, die sich in ländliche und stille Gegenden zurückzogen. Die „Zurück zur Natur“-Bewegung ließ sich auf die Ideen von Jean-Jacques Rousseau zurückführen, der glaubte, dass der Mensch in der Natur am glücklichsten sei.
Die Reformbewegungen wirkten bis in die 30er-Jahre des 20. Jahrhunderts. Der Wunsch nach Bewegung, in Licht, Luft und Sonne, als Ausgleich zum ungesunden Stadtleben und zur Gesundung des Körpers gedacht, führte zur Bildung von Gruppierungen, deren Mitglieder in der Natur wohnen und wandern wollten. Stadtrandsiedlungen entstanden, Landkommunen, Gartenstädte und Schrebergärten.
Erst ab der Mitte der 1960er-Jahre gab es wieder einen Trend zur Abwanderung aus Großstädten, Soziologen sprechen von einer Nahwanderung oder Stadt-Umland-Wanderung. Ursache war weniger Stadtverdrossenheit als vielmehr ein unzureichendes Wohnraumangebot. Es begann eine Bevölkerungsumverteilung zwischen Kernstadt und Umgebung, mit einigen negativen Folgen für die Umwelt durch den notwendigen Pendlerverkehr.
Der Prozess der Suburbanisierung hatte auch zur Folge, dass Randgebiete der Großstädte weitgehend zersiedelt wurden und im schlechten Fall auch die Attraktivität des näheren Umlands Verluste erlitt. Der Prozess ist jedenfalls bis heute nicht beendet: Auch Menschen, die die Städte im Lockdown verlassen wollen, legen Wert darauf, dass die „Nabelschnur“zu ihrem ursprünglichen Wohnort erhalten bleibt.