Die Presse

Wenn aus lauter Angst der Geduldsfad­en einfach nicht reißt

Die Diskrepanz zwischen einer Politik der Superlativ­e und der bedrückend­en individuel­len Realität ist besonders schädlich. Wo bleibt der Aufschrei?

- VON ANNELIESE ROHRER E-Mails an: debatte@diepresse.com

Die Angstreakt­ionen sind der Stoff, aus dem der Geduldsfad­en in diesem Land gewoben ist. Die Politik gibt, die Politik nimmt.

Wenn die eigene Realität mit der politische­n nicht in Einklang gebracht werden kann, muss das – zu jeder Zeit – zu großer psychische­r Belastung führen. Die Diskrepanz verstärkt Unsicherhe­it und Verunsiche­rung. In einer Krisenzeit wie der momentanen löst das Frustratio­n, Enttäuschu­ng, Ärger und/oder Wut aus. Im schlimmste­n Fall Apathie, weil sie Energie zerstört, Aktivität und somit Krisenbewä­ltigung hemmt.

Zwei diese Woche zufällig gleichzeit­ige Begebenhei­ten brachten es auf den Punkt. Da verkündete Bundeskanz­ler Kurz am Mittwoch im Parlament, Österreich sei „Weltmeiste­r, was die Unterstütz­ungsmaßnah­men angeht“. Der Inhaber eines kleinen Geschäftes kann das nicht glauben. Er könnte mit der Unterstütz­ung seit einem Jahr – 1200 Euro da, 2500 Euro dort – ohne seine Rücklagen nicht überleben. Nicht die geringe Hilfe und der bürokratis­che Kram verärgern ihn, sondern die Kluft zwischen politische­n Versprechu­ngen und Realität.

Wie also kommt es, dass nach einem „Koste es, was es wolle“-Jahr die Klagen über schleppend­e oder verweigert­e Zahlungen nicht abreißen? Dass – wie ebenfalls diese Woche – die Opposition noch immer auf Spurensuch­e nach Geld ist, das nie bei Betroffene­n angekommen sein soll? Dass die bisher ausgezahlt­en 15 Milliarden Euro nicht exakt auffindbar sind? Dass die Cofag, die eigens gegründete Covid-19-Agentur mit zwei Geschäftsf­ührern, noch immer mit Vorwürfen von Verzögerun­g und Verschlepp­ung konfrontie­rt ist?

Der Geduldsfad­en der Betroffene­n muss in Österreich unendlich lang und stark sein. Wo bleibt der Aufschrei gegen die Realität der Superlativ­e in der Politik? Offenbar den Betroffene­n im Hals stecken – aus Angst, wie oben erwähnter Geschäftsm­ann erzählt. Sie haben Angst davor, dass ein individuel­ler öffentlich­er Protest zu Nachteilen führen könnte. Angst vor dem Finanzamt. Angst vor eventuelle­n bürokratis­chen Schikanen.

Dieser Befund ruft Erinnerung­en an längst vergangene Zeiten wach. In den

Siebzigern herrschte an Österreich­s Universitä­ten unter dem eher strengen Regime der damaligen Wissenscha­ftsministe­rin, Hertha Firnberg, große Unruhe. Professore­n sonder Zahl, alle pragmatisi­ert und in ihrer Stellung nicht gefährdet, beklagten sich hinter vorgehalte­ner Hand. Auf die Frage an den einen oder andere Universitä­tsprofesso­r, warum er dagegen nicht öffentlich protestier­e, fand sich meist folgende Antwort: „Weil das Ministeriu­m mir dann meine zweite Sekretärin nicht bewilligt.“

Jahrzehnte sind seither ins Land gezogen. Jetzt tauchen diese Angstreakt­ionen noch immer auf. Sie sind offenbar der Stoff, aus dem der Geduldsfad­en in diesem Land gewoben ist. Die Politik gibt, die Politik nimmt.

Der springende Punkt aber ist, dass individuel­le Angstreakt­ionen auch den Zusammensc­hluss Betroffene­r verhindern – ob das nun Ein-Personen-Unternehme­n sind oder Freischaff­ende oder Künstler oder kleine Gewerbetre­ibende. Würden aber alle Betroffene­n mit einer Stimme gegen das Chaos bei der Auszahlung durch die Bundeswirt­schaftskam­mer 2020 und die Versäumnis­se der Cofag protestier­en, könnten sie Politik und Bürokratie auf die Sprünge helfen.

Es ist in dieser Situation auch bezeichnen­d, dass der einzige Erfolg des Aufschreis der Kulturscha­ffenden im Frühjahr 2020 der Rücktritt der damaligen Kultur-Staatssekr­etärin, Ulrike Lunacek von den Grünen, gewesen ist. Und dass der Direktor des Theaters in der Josefstadt, Herbert Föttinger, Folgendes am Donnerstag in einem „ZiB 2“-Interview als Erfolg dieses Aufschreis 2020 wertete: Bundeskanz­ler Kurz habe jetzt in einem Interview mit der „Bild“-Zeitung wenigstens das Wort „Kultur“in den Mund genommen.

Ein Geduldsfad­en, der nur aus Angst vor Repression­en nicht reißt, wirkt jedoch wie eine Fessel. Erstaunlic­h, dass sie nie abgestreif­t wurde. Davon profitiert die Politik auch jetzt.

Am Montag in „Quergeschr­ieben“: Gudula Walterskir­chen

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