Wenn aus lauter Angst der Geduldsfaden einfach nicht reißt
Die Diskrepanz zwischen einer Politik der Superlative und der bedrückenden individuellen Realität ist besonders schädlich. Wo bleibt der Aufschrei?
Die Angstreaktionen sind der Stoff, aus dem der Geduldsfaden in diesem Land gewoben ist. Die Politik gibt, die Politik nimmt.
Wenn die eigene Realität mit der politischen nicht in Einklang gebracht werden kann, muss das – zu jeder Zeit – zu großer psychischer Belastung führen. Die Diskrepanz verstärkt Unsicherheit und Verunsicherung. In einer Krisenzeit wie der momentanen löst das Frustration, Enttäuschung, Ärger und/oder Wut aus. Im schlimmsten Fall Apathie, weil sie Energie zerstört, Aktivität und somit Krisenbewältigung hemmt.
Zwei diese Woche zufällig gleichzeitige Begebenheiten brachten es auf den Punkt. Da verkündete Bundeskanzler Kurz am Mittwoch im Parlament, Österreich sei „Weltmeister, was die Unterstützungsmaßnahmen angeht“. Der Inhaber eines kleinen Geschäftes kann das nicht glauben. Er könnte mit der Unterstützung seit einem Jahr – 1200 Euro da, 2500 Euro dort – ohne seine Rücklagen nicht überleben. Nicht die geringe Hilfe und der bürokratische Kram verärgern ihn, sondern die Kluft zwischen politischen Versprechungen und Realität.
Wie also kommt es, dass nach einem „Koste es, was es wolle“-Jahr die Klagen über schleppende oder verweigerte Zahlungen nicht abreißen? Dass – wie ebenfalls diese Woche – die Opposition noch immer auf Spurensuche nach Geld ist, das nie bei Betroffenen angekommen sein soll? Dass die bisher ausgezahlten 15 Milliarden Euro nicht exakt auffindbar sind? Dass die Cofag, die eigens gegründete Covid-19-Agentur mit zwei Geschäftsführern, noch immer mit Vorwürfen von Verzögerung und Verschleppung konfrontiert ist?
Der Geduldsfaden der Betroffenen muss in Österreich unendlich lang und stark sein. Wo bleibt der Aufschrei gegen die Realität der Superlative in der Politik? Offenbar den Betroffenen im Hals stecken – aus Angst, wie oben erwähnter Geschäftsmann erzählt. Sie haben Angst davor, dass ein individueller öffentlicher Protest zu Nachteilen führen könnte. Angst vor dem Finanzamt. Angst vor eventuellen bürokratischen Schikanen.
Dieser Befund ruft Erinnerungen an längst vergangene Zeiten wach. In den
Siebzigern herrschte an Österreichs Universitäten unter dem eher strengen Regime der damaligen Wissenschaftsministerin, Hertha Firnberg, große Unruhe. Professoren sonder Zahl, alle pragmatisiert und in ihrer Stellung nicht gefährdet, beklagten sich hinter vorgehaltener Hand. Auf die Frage an den einen oder andere Universitätsprofessor, warum er dagegen nicht öffentlich protestiere, fand sich meist folgende Antwort: „Weil das Ministerium mir dann meine zweite Sekretärin nicht bewilligt.“
Jahrzehnte sind seither ins Land gezogen. Jetzt tauchen diese Angstreaktionen noch immer auf. Sie sind offenbar der Stoff, aus dem der Geduldsfaden in diesem Land gewoben ist. Die Politik gibt, die Politik nimmt.
Der springende Punkt aber ist, dass individuelle Angstreaktionen auch den Zusammenschluss Betroffener verhindern – ob das nun Ein-Personen-Unternehmen sind oder Freischaffende oder Künstler oder kleine Gewerbetreibende. Würden aber alle Betroffenen mit einer Stimme gegen das Chaos bei der Auszahlung durch die Bundeswirtschaftskammer 2020 und die Versäumnisse der Cofag protestieren, könnten sie Politik und Bürokratie auf die Sprünge helfen.
Es ist in dieser Situation auch bezeichnend, dass der einzige Erfolg des Aufschreis der Kulturschaffenden im Frühjahr 2020 der Rücktritt der damaligen Kultur-Staatssekretärin, Ulrike Lunacek von den Grünen, gewesen ist. Und dass der Direktor des Theaters in der Josefstadt, Herbert Föttinger, Folgendes am Donnerstag in einem „ZiB 2“-Interview als Erfolg dieses Aufschreis 2020 wertete: Bundeskanzler Kurz habe jetzt in einem Interview mit der „Bild“-Zeitung wenigstens das Wort „Kultur“in den Mund genommen.
Ein Geduldsfaden, der nur aus Angst vor Repressionen nicht reißt, wirkt jedoch wie eine Fessel. Erstaunlich, dass sie nie abgestreift wurde. Davon profitiert die Politik auch jetzt.
Am Montag in „Quergeschrieben“: Gudula Walterskirchen