Plädoyer für eine zweite Renaissance
Damit wir als Zivilisation nicht zugrunde gehen, braucht es ein neues Denken und Forschen, sagt die Physikerin Ille C. Gebeshuber.
Die Wissenschaft muss revolutioniert werden, um die großen Krisen unserer Zeit rund um Klimawandel, Massenmigration, Artensterben oder kulturelle Kontroversen bewältigen zu können, davon ist Ille C. Gebeshuber überzeugt. Denn das gegenwärtige Wissenschaftssystem verhindere die dafür notwendige radikale Kreativität: „Könnte Einstein heute noch studieren? Ich denke nicht, er würde vermutlich in den ersten Semestern rausgeprüft.“
Zu diesem bitteren Schluss kommt die Physikerin und Biomimetikerin der Technischen Universität (TU) Wien, die in ihrem Forschungsalltag versucht, Lösungen der Natur auf die Technik zu übertragen, etwa das Facettenauge von Insekten auf Optiken.
Schädlicher „Wissenssturm“
Gerüstet mit ihrem analytischphysikalischen Denkgerüst und inspiriert von einem siebenjährigen Forschungsaufenthalt in Malaysia hat die gebürtige Steirerin für ihr neues Buch „Eine kurze Geschichte der Zukunft“(Herder, 240 S., 22,70 €) skizziert, wie die Menschheit heraufdämmernde Katastrophen abwehren kann. Dem Wissenschaftsbetrieb der Gegenwart stellt sie in diesem Zusammenhang ein schlechtes Zeugnis aus.
„Wir sind einem Wissenssturm ausgesetzt, der inzwischen nicht mehr viel dazu beiträgt, eine schöne und gute Zukunft für viele zu gestalten“, sagt Gebeshuber. „Also müssen wir unsere Art, Forschung zu betreiben, hinterfragen.“Sie kritisiert, dass sich viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in geschlossenen Kreisläufen bewegen, ohne einen wirklichen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten.
Die Grundproblematik sieht Gebeshuber in einem System verankert, das immer mehr Veröffentlichungen verlangt und die mit der Lehre ohnehin schon sehr beschäftigten Forschenden bis an die Leistungsgrenzen belastet. Als Konsequenz habe sich etabliert, jede einzelne Entdeckung aufzusplittern, um sie in mehreren Publikationen verwerten zu können. „In der Flut an Publikationen ist es schwer, die wahren Perlen zu finden“, bedauert sie. Wichtige Neuentdeckungen würden buchstäblich von Papierstapeln zugedeckt.
Gleichzeitig fördert der Publikationsdruck das Spezialistentum. „Nehmen wir mein Forschungsgebiet, die Biomimetik. Da muss man sich auskennen in Physik, Materialwissenschaft, Mathematik, Botanik, Zoologie, Elektrotechnik, Ökologie – das ist lebenslanges Lernen, durch das über Jahrzehnte hinweg ein Denkgebäude entsteht“, erklärt sie. „Das kann ich Dissertantinnen und Dissertanten, die im derzeitigen System stecken und darin überleben müssen, nicht vermitteln.“Sie betont: „Wir brauchen wieder mehr umfassend gebildete Denkerinnen und Denker.“
Es ist ein Treppenwitz der Geschichte, dass deren Niedergang indirekt durch die 68er-Bewegung besiegelt wurde – zumindest nach Gebeshubers Auffassung. „Diese Generation war die am besten ausgebildetste der Menschheit. Man hatte ein großes Fachwissen und eine sehr gute Allgemeinbildung, dazu kamen ein Trend zur Philosophie und die sexuelle Revolution.“
Intellektuelle Talfahrt
Der Kampf gegen das „Establishment“wurde aufgenommen. Doch nach anfänglichen Erfolgen gegen die konservativen Kräfte mussten sich bekanntlich auch die 68er Sachzwängen beugen. „Seither bevorzugt die Politik Spezialisten, die sich weniger ablenken lassen.“Die Folgen spüre man bis heute. „Viele hochbegabte Forscher sind gezwungen, nach Kochrezepten zu forschen, und haben keine Möglichkeit zu wachsen. Das ist schade, denn revolutionäre Entdeckungen werden eben hauptsächlich von Revolutionären gemacht.“
Nur eine massive Veränderung könne ein Umdenken auslösen, ist sich Gebeshuber sicher. Sie meint damit nicht bloß einen Perspektivwechsel, sondern ein geistiges Erwachen ähnlich der Renaissance, als sich eine neue Weltsicht – weg von der Mystik des Mittelalters, hin zur mathematisch-wissenschaftlichen Klarheit – durchgesetzt hat. Eine Hinwendung zum Verstehen würde auch die Geisteswissenschaften gegenüber den Naturwissenschaften emanzipieren: „Nur gemeinsam können wir die Barrieren des Denkens überwinden.“Dies sei wiederum Voraussetzung für eine sanfte Landung unserer Zivilisation nach den Turbulenzen sich zuspitzender Krisen.
In diesem Sinn ist die Zukunft, die Gebeshuber in ihrem Buch zeichnet, auch Vision einer Zeit, in der dieses Umdenken passiert ist. Ende gut, alles gut? Das ist wohl Geschmacksache. Die Vorstellung einer Zivilisation, die Anfang des 22. Jahrhunderts von der Natur entfremdet in Megacitys lebt, mit sinneserweiternden Implantaten ausgestattet ist und sich mehrheitlich virtuell begegnet, sorgt mitunter für dystopisches Gruseln beim Lesen.
Und die Natur dieser Zukunft? Die, so Gebeshuber, lasse sich von der in virtuelle Parallelwelten abgedrifteten Menschheit nicht mehr aus der Ruhe bringen: „Das Blau des Himmels ist das gleiche wie heute. Das Gras wird genauso grün sein, so wie die Kirschen rot.“
Radikale und interdisziplinäre Kreativität, die über den Tellerrand schaut, nimmt mit jeder Forschergeneration ab.
Ille C. Gebeshuber, Angewandte Physikerin, TU Wien