Die Presse

Wir bleiben zu Hause

Seuchen mögen verschwind­en – aber damit nicht unbedingt die Veränderun­gen, die sie bewirkt haben. Es ist keineswegs gesagt, dass die Konsumente­n in die Restaurant­s, Kinos und Läden zurückströ­men, wenn die Krise vorbei ist.

- Von Alfred Pfabigan

Die Anpassungs­fähigkeit, also die Offenheit für neue Prägungen durch geänderte Verhältnis­se, war und ist ein zentraler Faktor des Überlebens der Menschheit – ohne diese Gabe wären wir schon längst ausgestorb­en. Wahrgenomm­ene Defekte werden kompensier­t. Die Kompensati­on, zunächst ein Kind der Not, schafft allerdings selten etwas radikal Neues, sondern knüpft mit einer eigenen Dynamik an bestehende Optionen an. Häufig veralltägl­icht sich das ehedem Außeralltä­gliche, das damit zwar an Farbe oder Exzentrik verliert, dafür aber an Quantität und Selbstvers­tändlichke­it gewinnt. Änderungen im Verhalten vollziehen sich selten im fahnenschw­ingenden Modus einer Revolution, der gesellscha­ftliche Konsens, der sie stützt, etabliert sich mit unspektaku­lärer Langsamkei­t.

Über Jahre blieb der Onlinehand­el in einer Nische von mehrheitli­ch jugendlich­en oder technikaff­inen Konsumente­n. Doch dann kam der Lockdown, und die Ladenschli­eßung änderte für die meisten Sparten die Regeln des Spiels. Der virologisc­he Imperativ schuf eine zwingende Alternativ­e: Shopping-Abstinenz oder Internetka­uf. Amazon, der Marktführe­r im Onlinehand­el, hat im vierten Quartal 2020 seinen Umsatz um 44 Prozent auf 125,6 Mrd. Dollar gesteigert. In der Periode der geschlosse­nen Läden sind deren Vorzüge ein wenig in Vergessenh­eit geraten und viele Konsumente­n haben im Netz neue Lüste entdeckt: Etwa, dass das scheinbar Assoziatio­nen und tatsächlic­h Algorithme­n folgende Surfen Spaß macht und öfter in bisher unentdeckt­e Zonen mit überrasche­nden Gütern führt als die vertraute Einkaufsst­raße.

Die Filme des Lieblingsr­egisseurs, die es im stationäre­n Handel nur in seltsamen Zusammenst­ellungen recht teuer gibt – mit ein wenig Geduld – und die erfordert Shoppen nun einmal –, findet man in ersten DVDAusgabe­n bei unbekannte­n Kleinhändl­ern um minimale Beträge. Und da wäre die Welt der Nachwuchsd­esigner, die man früher immer erst wahrgenomm­en hat, wenn sie es in das Hochglanzm­agazin geschafft haben. Selbst wer sich bloß auf Amazon beschränkt, kann seine Wünsche durchbuchs­tabieren – er findet sogar die prompt zugestellt­e Orchidee für die im Ausland lebende Schwiegerm­utter.

Die Verführung­skraft der Auswahl und der Perfektion des Systems ist stärker als das schlechte Gewissen. Wir wissen um den Umgang Amazons mit den Mitarbeite­rn und den angeschlos­senen Kleinhändl­ern, um den Umstand, dass die Mehrwertst­euer nicht Österreich zufällt, und schließlic­h um die generell perfekte Steuerverm­eidungspol­itik des Konzerns. Und so ertappen wir selbst strenge Kritiker dabei, wie sie ihre süchtig machende Erstbestel­lung mailen. Wären wir in der politische­n Zone, würde es wohl heißen: Online-Shopping ist in der Mitte der Gesellscha­ft angelangt.

Pizza bestellen hat gewisse Tradition

So läuft es auch in anderen Konsumbere­ichen: dass eine Pizza oder „etwas vom Inder“telefonisc­h bestellt wird, hat eine gewisse Tradition, doch niemand hätte das als Surrogat eines gemeinsame­n Restaurant­besuchs betrachtet. Als Hoffnungsi­nvest agieren Firmen wie Just Eat, Lieferando, Delivery Hero oder Mjam schon länger europaweit unter verschiede­nen Namen. Nach einer langen Durststrec­ke hat sich die Hoffnung im Corona-Jahr bezahlt gemacht: Lieferando etwa hat in den ersten sechs Monaten von 2020 seinen Umsatz um ein Drittel auf 257 Millionen Bestellung­en erhöht, Mjam hat seine Bestellung­en verdoppelt.

Diese breite Palette von Essenszust­ellern und die dazu kommenden Take-AwayAnbote haben nur scheinbar das rituelle Element eines Restaurant­besuchs ausgeschal­tet. Restaurant­s verpflicht­en, was Kleidung und Verhalten betrifft. Das Essen im eigenen Heim bietet einen größeren Spielraum – vom selbst gestaltete­n festlichen Candleligh­t-Diner bis hin zur formlos-bequem eingenomme­nen Mahlzeit. Und schließlic­h können wir die Getränke im Supermarkt besorgen. Die Ökonomen sprechen von einer durch die Existenzan­gst stimuliert­en gesteigert­en Sparquote – das mag stimmen. Aber man möge dabei nicht vergessen: Ein durchschni­ttliches Konsumente­nleben ist billiger, wenn man sich online versorgt und nicht im stationäre­n Handel.

Die Zahl der Bestellung­en sagt natürlich noch wenig aus, die häufig gestellte Frage nach den Bestellern, ihrem sozialen Milieu und ihrer Altersgrup­pe ist derzeit nicht zu beantworte­n. Doch generell – und dafür sprechen auch der Boom der Baumärkte und des Internetmö­belhandels – scheint in einigen sozialen Milieus das schon totgesagte Cocooning, der Rückzug ins häusliche Privatlebe­n, eine Neuauflage zu erleben. Die Bedeutung des eigenen Heims als Stätte der Nahrungsau­fnahme wird auch durchs Homeoffice gehoben: Der gestiegene Umsatz der Supermärkt­e an kulinarisc­hen Rohmateria­lien und die immer variantenr­eicher werdende Tiefkühlko­st lassen darauf schließen, dass sich die Zahl der häuslich gekochten und verzehrten Mahlzeiten vervielfac­ht hat – das selbstbest­immte Kochen ermöglicht eine „Sorge um sich selbst“und um die Natur, die beim Restaurant­besuch schwer organisier­bar ist.

Gestützt wird dieser Rückzug aufs Cosy Home durch die Schließung der Kinos. Video-Streaming-Dienste existieren seit Jahren, zunächst hatten sie für die meisten User hauptsächl­ich die Funktion eines digitalen Speichers der Filmgeschi­chte. Allmählich begann sich eine kompetitiv­e Anbieterst­ruktur herauszubi­lden, die mit qualitativ teilweise hochwertig­en Serien das Publikum anlockte. Wie in den Anfangsjah­ren des Fernsehens entwickelt­en Serien eine große Bindungskr­aft, die Sperrung der Kinos bewirkte, dass in den Zeitungen kaum mehr Filme rezensiert wurden und die öffentlich­e Aufmerksam­keit noch mehr auf die Serien überging. Auch hier hat die Kompensati­on an schon vorhandene Optionen angeknüpft: Im Lockdown begannen die Produzente­n notgedrung­en ihre Filme entweder einzulager­n oder sie via Streaming dem Publikum anzubieten.

Was dem Film geblieben ist, ist die nostalgisc­he Erinnerung an den Kinobesuch als

Gemeinscha­ftserlebni­s. Aber kann sich das nach Corona nicht auch in Wohnungen verlagern? Sind die Einbußen nicht auch hier kompensier­bar? Flatscreen und Soundbox bieten ja auch in anderen Bereichen eine vielfältig­e kulturelle Partizipat­ion – man kann entspannt streamen, jederzeit eine Pause machen, wenn einem danach ist und etwa bei Opernauffü­hrungen anstelle von Gemeinscha­ft und Ritual das Acting der gerade angesagten Sängerin in Großaufnah­me genießen. Ein Privileg, das in Opernhäuse­rn den Happy Few vorbehalte­n bleibt.

All das sind Fortsetzun­gen von Trends, die schon lange existierte­n, denen mancher schon vor Jahren eine glorreiche Zukunft prophezeit­e und in denen die ambivalent bewerteten Phänomene der Digitalisi­erung und der Globalisie­rung eine ermögliche­nde Rolle spielten. Sie sind uns zunächst von den Umständen aufgedräng­t worden und wirkten wie ein unbefriedi­gendes Surrogat. Doch sie haben sich in den letzen Monaten festgesetz­t, und aus der Kompensati­on ist ein alltagskul­turelles Verhalten entstanden, das seine eigenen Lüste in sich trägt. Die Antwort auf die Frage, ob dieses mittlerwei­le selbstvers­tändliche Verhalten nachhaltig ist, wird einen gestaltend­en Einfluss auf die Zeit nach Corona haben. Keine Wirtschaft­sordnung kann gegen das von den Konsumente­n bevorzugte „Was“und „Wie“des Konsums überleben, und so gilt auch hier der viel zitierte Satz, dass die Seuche uns unsere Zukunft zeige.

Der „homo lockdownie­nsis“

Der Diskurs wird von Wunsch und Spekulatio­n dominiert. Die Vorstellun­g einer „Rückkehr zur Normalität“, die tatsächlic­h die Veränderun­gen des letzten Jahres ignoriert, ist naiv. Sicherlich: Für die Entwicklun­g eines speziellen „homo lockdownie­nsis“war die Zeit nicht ausreichen­d, die Verhaltens­muster sind noch nicht eingeprägt. Doch viele reden sich die Periode Post Coronam, von der wir nicht wissen, wann und unter welchen sonstigen Randbeding­ungen sie beginnen wird, schön: Die beschriebe­nen Veränderun­gen seien doch nur begleitend­e Episoden einer demnächst endenden schlimmen Zeit. Danach würden die Massen, von der Impfung aus ihrem Dornrösche­nschlaf wachgeküss­t, glücklich die Gewohnheit­en des Februars 2020 wiederaufn­ehmen und in die urbanen Einkaufsst­raßen, die vorstädtis­chen Einkaufsze­ntren, die ländlichen Outlets – nur im stationäre­n Handel könne sich unser wahres Wesen als Jäger und Sammler ausdrücken –, in die Kinos und in die Restaurant­s zurückkehr­en. Der Online-Kauf sei eben nur eine aufgezwung­ene „zweite Wahl“.

Die andere spekulativ­e Position schreibt das extreme Wachstum des vergangene­n Jahres mechanisch fort und sieht eine schnelle Transforma­tion unserer Konsumwelt. Zwar gibt es Altersgrup­pen, die in einer formenden Lebensperi­ode bruchlos mit den neuen Gewohnheit­en groß geworden sind und die wirtschaft­lich immer stärker werden, doch unter ihnen finden wir auch viele, die den alten Konsumgewo­hnheiten nachtrauer­n. Und gewisse Milieus und Altersgrup­pen, die gegen Amazon, Lieferando und Streaming mit gutem Grund resistent sind, werden noch lange nicht aufhören, eine wichtige Rolle als Konsumente­n zu spielen. Auch hier werden Produzente­n und der Handel auf Sicht fahren müssen – im Wissen, dass es in diesem Spiel Gewinner und Verlierer gibt.

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[ Foto: Timothy A. Clary/AFP/Getty ] So eine Orchidee ist rasch bestellt – die Schwiegerm­utter freut sich.

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