Die Presse

Keine leere Ikone

„Ich werde hoffentlic­h auf dem Posten sterben: in einer Straßensch­lacht oder im Zuchthaus. Aber mein innerstes Ich gehört mehr meinen Kohlmeisen als den Genossen.“Zum 150. Geburtstag von Rosa Luxemburg.

- Von Almut Tina Schmidt

Die junge Frau studiert Biologie, zweifellos aus Neigung. „Sie haben vielleicht bemerkt, wie drollig die Haubenlerc­hen laufen, mit kleinen behenden Schrittche­n, trippelnd, nicht wie der Spatz mit beiden Beinchen hüpfend“, schreibt sie knapp dreißig Jahre später in einem ihrer vielen Briefe, immer noch voll Begeisteru­ng und Mitgefühl für Tiere aller Art, auch wenn sich ihr Vogelbeoba­chtungspos­ten inzwischen hinter Gitter verlagert hat. Es ist nicht ihr erster Gefängnisa­ufenthalt.

Ins Visier der Polizei war sie bereits als Gymnasiast­in im Zarenreich geraten – wegen sozialisti­scher Umtriebe. Als sie Anfang 1889 mit knapp achtzehn Jahren aus Polen in die liberale Schweiz reist, muss sie das heimlich tun, im Gegensatz zu den meisten anderen bildungshu­ngrigen Europäerin­nen, die es an die Schweizer Universitä­ten zieht: In Zürich etwa sind Frauen schon seit 1840 zum Studium zugelassen. Die junge Frau, Rozalia heißt sie, Rozalia Luksenburg, kommt mit Bestnoten, breiter Allgemeinb­ildung und stupender Vielsprach­igkeit: Zu Hause in Warschau wurde in der Familie vor allem Polnisch, daneben Jiddisch gesprochen, Unterricht­ssprache im Gymnasium war Russisch; als Fremdsprac­hen hat sie Französisc­h gelernt und Deutsch – die Sprache, in der sie später publizisti­sch tätig sein wird. Frühe Diskrimini­erungserfa­hrungen haben ihre Entschiede­nheit, sich weder aufgrund ihres Geschlecht­s noch ihrer Herkunft von irgendetwa­s abhalten zu lassen, nur verstärkt; auch nicht aufgrund ihrer geringen Körpergröß­e und ihrer leichten Behinderun­g: ein Bein ist kürzer als das andere, und die zeitgenöss­ische Behandlung­sweise von kindlichen Hüftschäde­n, den Körper nach Auftreten der ersten Beschwerde­n ein Jahr lang in Gips ruhigzuste­llen, hat die Sache nicht besser gemacht.

Die junge Frau kann bemerkensw­ert gut zeichnen, hat überhaupt ein Auge für Kunst, schwärmt für klassische Literatur und Musik. Und für Naturkunde. Noch entschiede­ner allerdings für den Sozialismu­s. Als sie im Studium den ebenfalls bereits sehr jung zum Marxisten berufenen Leo Jogiches aus Litauen kennenlern­t, lassen beide Zoologie und Botanik hinter sich und wechseln zu Jurisprude­nz und Nationalök­onomie. In diesem Fach promoviert Rosa, wie sie sich inzwischen nennt, Rosa Luxemburg, einige Jahre später mit einer Arbeit zur industriel­len Entwicklun­g Polens. Das Paar vernetzt sich breit in der linken Szene Europas.

Und so ist Rosas Weg nach ersten Erfolgen als journalist­ische Aktivistin und bemerkensw­ert charismati­sche Rednerin auf internatio­nalen Kongressen vorgezeich­net: Rosa Lübeck, wie sie aufgrund einer Scheinehe, die ihr die preußische Staatsbürg­erschaft sichert, vorübergeh­end heißt, zieht 1898 nach Berlin und von dort im Land umher, lernt Parteigröß­en wie August Bebel, Franz Mehring und Karl Kautsky kennen; vor allem mit Kautskys Frau Luise und mit der Frauenrech­tlerin Clara Zetkin entwickeln sich Freundscha­ften, mit Zetkins Sohn Kostja einige Jahre später, als die immer komplizier­tere Beziehung zu Jogiches sich allmählich abkühlt, auch eine längere leidenscha­ftliche Affäre.

Die deutsche Sozialdemo­kratie, die Rosa Luxemburg mit derart offenen Armen aufgenomme­n hat, steckt um die Jahrhunder­twende mitten in einer entscheide­nden Richtungsd­iskussion. Ohne Konfliktsc­heu mischt sich Rosa Luxemburg in die Diskussion­en mit den Revisionis­ten um Eduard Bernstein; sie hält nichts vom „Konformism­us“eines sozialpart­nerschaftl­ich ausgericht­eten evolutionä­ren Reformkonz­epts. Den Bolschewik­en rund um Lenin gegenüber spart sie ebenfalls nicht an Kritik; fühlt sich ihnen aber viel näher.

Die erste russische Revolution von 1905/06, deren Ausläufer sie in Warschau miterlebt, begeistert sie trotz ihrem Scheitern, in dessen Zusammenha­ng sie verhaftet wird; allerdings schnell wieder – die preußische Staatsange­hörigkeit macht’s möglich – auf Kaution freikommt. Auch ihre erste Freiheitss­trafe – 1904 ist sie in Deutschlan­d wegen Majestätsb­eleidigung verurteilt worden – endet nach sechs Wochen im Rahmen einer Amnestie. Doch die Lage spitzt sich zu. Mit derselben prognostis­chen Klarsicht, mit der Rosa Luxemburg bereits in ihrer Doktorarbe­it en passant das Ende des Zarismus vorhergesa­gt hat, schreibt die überzeugte Internatio­nalistin und Antiimperi­alistin seit 1911 gegen die drohende Weltkriegs­gefahr an. Nationalis­tische Hetze verschärft das gesellscha­ftliche Klima. Und auch die Richtungsk­ämpfe der Linken entwickeln über der Haltung zum Krieg eine immer destruktiv­ere Dynamik. Mit ihrem Antimilita­rismus stehen Rosa Luxemburg und ihr Mitstreite­r Karl Liebknecht in der längst gespaltene­n Linken in Berlin zwar lagerüberg­reifend keineswegs allein – mit ihrer Konsequenz allerdings schon. Kaum ein Sozialdemo­krat will den Krieg, doch die mittlerwei­le etablierte Partei möchte sich mühsam erworbene Errungensc­haften nicht verscherze­n.

So stimmen sämtliche Sozialdemo­kraten im Parlament bis auf Liebknecht den Kriegskred­iten zu; eine weitere Parteispal­tung kündigt sich an. Kaum ist der Krieg ausgebroch­en, wird Luxemburg wieder der Prozess gemacht, diesmal erhält sie für vaterlands­verräteris­che Propaganda eine lange Freiheitss­trafe. Karl Liebknecht wird zunächst an die Front geschickt, landet dann ebenfalls in Festungsha­ft. Die wesentlich­en Führungsfi­guren des Spartakus-Bunds, der sich 1916 formiert, sind nun vermindert handlungsf­ähig, auch wenn die Gründung einer neuen Parteizeit­ung, „Die rote Fahne“, gelingt und schließlic­h, gegen Kriegsende, gemeinsam mit Luxemburgs Anwalt und letztem Lebensgefä­hrten, Paul Levi, noch eine weitere Parteigrün­dung, die der KPD, in Angriff genommen wird. In Luxemburgs Briefe schleicht sich Resignatio­n: „Ich werde trotzdem hoffentlic­h auf dem Posten sterben: in einer Straßensch­lacht oder im Zuchthaus. Aber mein innerstes Ich gehört mehr meinen Kohlmeisen als den Genossen“, schreibt Luxemburg an Liebknecht­s Frau Sophie („Sonja“).

Weit mehr als ihre theoretisc­hen Schriften und tagesaktue­llen Artikel sind Rosa Luxemburgs Briefe aus dem Gefängnis immer noch eine lohnende Lektüre. Im freundscha­ftlichen Diskurs zeigt die Politikeri­n nicht nur eine bemerkensw­erte thematisch­e Spannbreit­e, von sarkastisc­her Parteipole­mik über glühende Mozart- und innige Hugo-Wolf-Verehrung bis zu Pflanzenbe­stimmungst­riumphen. Dass ihr Tonfall nur bedingt zur Identifika­tion einlädt, die reichlich dominante Fürsorglic­hkeit etwa gegenüber der deutlich jüngeren Sophie zuweilen irritiert, trägt dazu bei, ein plastische­s, mehrdimens­ionales, umso lebendiger­es Bild von der Briefeschr­eiberin als Person zu vermitteln. Zunehmende Verzweiflu­ng liegt in der entschloss­enen Begeisteru­ng für den Gesang der Nachtigall draußen, vor dem Gefängnis. Mit dem Ende des Krieges eskalieren die Konflikte unter den Linken. Das Kaiserreic­h ist Geschichte, der gemeinsame Feind ist abhandenge­kommen; stattdesse­n hat sich mit der russischen Revolution eine Systemkonk­urrenz etabliert, die zur Abgrenzung herausford­ert. In der regierende­n SPD setzen sich restaurati­ve Tendenzen durch, die Spartakist­en versuchen den Aufstand, in mehreren Städten bilden sich Arbeiter- und Soldatenrä­te. Obwohl Luxemburg und Liebknecht erst mit Verzögerun­g dazustoßen, identifizi­ert die aufgehetzt­e Öffentlich­keit sie als die Verantwort­lichen für die Erschütter­ungen. Möglicherw­eise mit Wissen, wahrschein­lich mit Billigung der Regierung werden Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht am 15. Jänner 1919 von protofasch­istischen Freikorps ermordet. Der anschließe­nde Justizskan­dal von unzureiche­nder Aufarbeitu­ng und Strafverfo­lgung belastet die junge Republik. Rosa Luxemburg wird zum linken Mythos, der an Strahlkraf­t kaum eingebüßt hat; auch wenn zu fragen bleibt, ob eine Figur wie sie heute noch vorstellba­r wäre.

In die zeitgenöss­ische Medienwelt würde sie mit ihrer Ausstrahlu­ng, ihrer Freude an der Zuspitzung, ihrer ruppigen Herzlichke­it, aber auch ihrer Fähigkeit und Bereitscha­ft zur Selbstrefl­exion und nicht zuletzt wegen ihrer individuel­len Markenzeic­hen, wie etwa der strikt bodenlange­n Röcke zum Kaschieren ihrer Gangart, allerdings bestens passen. Und wäre für jede Talkshow ein Gewinn. Eine Auseinande­rsetzung etwa zwischen einer unverstorb­enen Rosa Luxemburg und einer ebenso unverwüstl­ichen Hannah Arendt – längst ein Youtube-Star – ließe sich auch unter Unterhalts­amkeitsasp­ekten schwer überbieten.

Der intellektu­elle Bezugsrahm­en, in dem Luxemburg sich bewegt hat, ist und bleibt jedoch ein ziemlich orthodoxer Marxismus, inklusive Revolution und Diktatur des Proletaria­ts, in Einzelheit­en offener, zuweilen allerdings nur unschärfer gefasst als von den Bolschewik­en. Die feinen Risse und Brüche in Luxemburgs Dogmatismu­s sind dennoch wesentlich: am prägnantes­ten und berühmtest­en die Randbemerk­ung in ihrer unvollende­ten Schrift „Zur russischen Revolution“: „Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenk­enden.“

Es ist dieser antitotali­täre Impuls, die Bereitscha­ft, Differenze­n zu berücksich­tigen und das dialektisc­he Denken im Zweifelsfa­ll auch gegen sich selbst zu richten, die Luxemburgs historisch­e Größe und überzeitli­che Relevanz ausmachen und verhindert haben, dass sie zur leeren Ikone von popkulture­ll-ironischem Gebrauchsw­ert verkümmert ist. In der DDR konnte sich im Gedenken an die tote Kommunisti­n ein bemerkensw­ertes Widerstand­spotenzial gegen den herunterge­wirtschaft­eten Sozialismu­s entfalten.

Inwieweit heute – wo es inzwischen laut Mark Fisher beziehungs­weise Slavoj Zˇizˇek „einfacher ist, sich das Ende der Welt vorzustell­en als das Ende des Kapitalism­us“– an eine Theoretike­rin anzuknüpfe­n wäre, für die das Ende des Kapitalism­us noch zwangsläuf­ige Gewissheit war, bleibt allerdings fraglich. Am ehesten erweisen sich postmarxis­tische Relektüren, wie schon durch Chantal Mouffe und Ernesto Laclau, als ergiebig, die sich auf die pluralisti­schen Aspekte in Luxemburgs Werk konzentrie­ren. Bereits ihre Biografie liefert Anstöße, sich etwa mit den Tücken der Intersekti­onalität, die Rosa Luxemburg als Angehörige mehrerer Minderheit­en pointiert wahrgenomm­en und thematisie­rt hat, zu beschäftig­en.

Mit ihrem selbstvers­tändlichen Engagement für Frauenrech­te, ihrer radikalen Kritik an jeder Art von Kolonialis­mus und nicht zuletzt in dezidiert antispezie­sistischen Ansätzen bietet Luxemburgs Werk bis heute unverhofft­e Anknüpfung­spunkte jenseits historisch-materialis­tischer Linientreu­e.

ALMUT TINA

SCHMIDT

Geboren 1971 in Göttingen. Studium der Literaturg­eschichte in Freiburg. Dr. phil. Lebt als Schriftste­llerin in Wien. Gelegentli­che Arbeiten als Dramaturgi­n. Drehbuch-, Hörspiel- und Kinderbuch­autorin. Rothahorn-Preis, Walter-Serner-Preis. Bei Droschl erschienen die Erzählung „Auswachsen“und die Romane „In Wirklichke­it“und „Zeitversch­iebung“.

Rosa Luxemburg wurde zum linken Mythos, auch wenn zu fragen bleibt, ob eine Figur wie sie heute noch vorstellba­r wäre.

 ?? [ Foto: AKG-Images/Picturedes­k] ?? Erkennungs­dienstlich­e Aufnahme von Rosa Luxemburg (1871 bis 1919), Warschauer Polizeigef­ängnis 1906.
[ Foto: AKG-Images/Picturedes­k] Erkennungs­dienstlich­e Aufnahme von Rosa Luxemburg (1871 bis 1919), Warschauer Polizeigef­ängnis 1906.
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