Das goldene Händchen
Alltagstauglich ist sie nicht, Tobias Roths „Welt der Renaissance“. Aber der Prachtband lässt an etwas Altmodisches denken: an eine Art Privatbibliothek, mit Gesamtausgaben, Lexika, naturkundlichen wie belletristischen Werken – aus dem Quattrocento. Ein
Die „Welt der Renaissance“, wie Tobias Roth sie versteht, ist ihrem Sujet gemäß nicht zu übersehen und nicht leicht in die Hand zu nehmen. Sie hat ein Format von 32 x 23 x 4,5 Zentimetern, ist 640 Seiten stark und prächtig anzuschauen. Präsentiert wird die Anthologie als Folioband mit ausschließlich italienischen und lateinischen Texten. Sie hat somit mehr mit einer mittelalterlichen Handschrift gemein als mit einem alltagstauglichen Buch. Es braucht einen angestammten Ort, am besten mit Stehpult, oder einen großen Tisch, um sich darein zu versenken. Dazu ist diese Welt der Renaissance wohl gedacht. Ein ständiger Begleiter ähnlich eines Stundenbuchs oder eines Taschenschmökers ist die gewaltige Sammlung ganz sicher nicht, auch wenn es schwerfällt, sich von ihr abzuwenden.
Tobias Roth, Herausgeber, Übersetzer und Kommentator der Texte, begann in einem weit weniger aufwendigen Format. Zwischen 2011 und 2017 erschienen digital die Berliner Renaissance-Mitteilungen, per Mail verschickt. Die anschließend überarbeiteten Übersetzungen und Erläuterungen mündeten schließlich in kiloschwerer Opulenz. Die Sammlung der Texte, begonnen in einem Medium, das dem Autor die schnelle Korrektur und das unkomplizierte Überschreiben nahegebracht hat, wird verlagert in eines, das an etwas denken lässt, das im Verschwinden begriffen ist: die Privatbibliothek mit Tausenden von Büchern, darunter Erstausgaben, Gesamtausgaben, Lexika, naturkundliche wie belletristische Werke, auch solche, die bibliophil gebunden sind, und eben: Folianten. Deshalb erscheint die „Welt der Renaissance“nicht nur als Wiederaneignung der Gegenwart des Quattrocento auf die Antike, sondern auch als Rückbesinnung und Wiederaneignung der physischen Bibliothek mit allem, was sie umfasst.
„Welt der Renaissance“meint in der vorliegenden Sammlung ausschließlich die Literaturen Italiens des beginnenden 14. bis zum beginnenden 16. Jahrhunderts, einer Region, in der kleine Fürstentümer, Stadtstaaten und Regierungsbezirke nur lose zusammenhängen, rivalisieren, ebenso miteinander Handel treiben wie ihre Regenten sich gegenseitig bekriegen und heimgesucht werden von der Pest. Eine Zeit voller Gewalt, in der in der Rückschau auf die Antike ein neues Menschenbild entsteht und Autoren mit einem neuen Selbstverständnis schreibend denken, experimentieren, forschen, sprechen.
Nach wie vor ist es eine von Männern dominierte, vom männlichen Blick, männlichen Standpunkt aus literarisierte Welt, deren Dominanz aber immerhin Risse bekommt. Es ist die Zeit, in der eine Christine de Pizan, geboren 1364 in Venedig, ab 1368 lebend am Hof Karls V. Valois in Paris, ihr Epos „Die Stadt der Frauen“schreibt und damit die „Querelle des Femmes“, die Disputation um die Gleichstellung der Frau, eröffnet. So bedeutende, innovative Autorinnen hat Roths italienische Welt der Renaissance nicht zu bieten. Unter den mehr als sechzig Autoren der vielstimmigen Sammlung kommen kaum fünf Autorinnen zu Wort. Schwer zu sagen, wie viele Schriften von Frauen verloren gegangen sind oder noch auf eine Entdeckung warten. Die Kunstgeschichte scheint in ihren Recherchen und Würdigungen der Künstlerinnen dieser Epoche und der folgenden der Literaturgeschichte weit voraus zu sein.
Den Schwerpunkt der Anthologie bilden Texte, deren Autoren im Quattrocento, dem 15. Jahrhundert, geboren sind. Die Sammlung ist chronologisch nach dem Geburtsdatum der Urheber geordnet und wird von Francesco Petrarca, dem großen Liebeslyriker (1304 bis 1374), angeführt und schließt mit Torquato Tasso (1544 bis 1595).
Roth führt den Leser in die von ihm gesetzte Epoche in zuweilen launischem Tonfall ein. Er präsentiert jede Lyrikerin, wie Gaspara Stampa („Früh vollendet, spät entdeckt“), jeden Dichter, Schriftsteller, Autor wie Michelangelo Buonarotti („Der vergötterte Künstler“) ausführlich, lässt es an den köstlichen Texten von Arlotto Mainardi („Der Priester als Clown“) ebenso wenig fehlen wie an den Briefen Piccolominis („Der Humanist als Papst“) und betitelt die jeweilige Einführung in Lebensverhältnisse und Werk mit einem kleinen süffisanten Leitmotiv.
So leidenschaftlich der Herausgeber mit seinem Gegenstand verbunden ist, so sehr hält er auf Distanz zur Betrachtung. Die verschiedenen Beiträge sind mit Querverweisen zu anderen versehen. Das lässt einen Kontext, ein Netzwerk, tatsächlich eine „Welt“entstehen, in der sich vor allem auch der literaturhistorische Laie immer besser zurechtfindet, je länger er in der Sammlung blättert, liest, sich aufhält. Es gibt keinen Grund, chronologisch vorzugehen, vorne anzufangen und hinten aufzuhören.
Roths Arbeit erschließt sich am besten so. „Eine ,Epoche‘, ihr Anfang, ihr Ende, ist zudem nicht nur eine Frage der Zeit, sondern auch eine Frage des Ortes.“Das lässt sich nicht als den „Ort“Italien lesen, sondern auch als den Ort, den die Leserin selbst bestimmt durch die Art der Lektüre. Roth lädt mit seiner Einführung in das Zeit- und Textgeschehen sowie seinen Porträts und Kommentaren zu den einzelnen Autoren auch Leser ein, denen der Aufbruch in die neue Welt durch die Rückschau auf die Antike eher unvertraut ist. Er gibt kundige Leitlinie an die Hand, die an das Thema heranführen.
Ein Wort sei noch angemerkt zu der außerordentlichen Ausstattung des Buchs. Es ist nicht nur reich an Abbildungen, Faksimiles zeitgenössischer Drucke, Vignetten und farbigen Tafeln, sondern auch grafisch kundig und äußerst ansprechend gestaltet und mit einem Register und Querverweisen versehen. Das macht Lust zum Blättern und Schmökern. Im Schlusssatz des Einführungskommentars zu Torquato Tasso offenbart der Herausgeber noch einmal fast programmatisch seine ganze Leidenschaft für sein Unterfangen. „Der Umgang der Renaissance mit dem Gedächtnis, ihr goldenes Händchen, Vergangenes in Gegenwärtiges zu verwandeln, ist das beste Beispiel dafür, dass Epochen zwar irgendwie anfangen, aber nicht mehr aufhören.“