Die Presse

Wo bitte ist denn Ermland?

Polen. Gleich neben den Masuren liegt diese touristisc­h kaum erschlosse­ne Region. Den stillen Nordosten Polens prägen Waldfläche­n, Wiesen und Seen. Dazwischen verstecken sich stille Backsteinb­auten, werken neue Gastgeber und Biobauern.

- VON CARSTEN HEINKE

Dünne Nebelschwa­den wachsen aus dem feuchten Gras. Sein Duft mischt sich mit dem vom Wald. Wie frischer Atem strömt er durch das offne Küchenfens­ter. Ein Frühlingst­ag in der Woiwodscha­ft Ermland-Masuren (Wojewodztw­o´ warmin´sko-mazurskie) neigt sich dem Ende zu.

„In Ermland kann man riechen, wenn es Abend wird“, meint Marta Wysokin´ska und holt die Brote aus dem Ofen. Damit sorgt sie für noch mehr Wohlgeruch im Siedlisko Pasieka – zu Deutsch: Bienen- oder Immenhof. Das kleine bäuerliche Anwesen ist ihr Familienwo­hnsitz, Ferienranc­h und Imkerei. Es gehört zum Dorf Wonneberg (Studzianka) und liegt in einem Wald am Teich, irgendwo zwischen Allenstein (Olsztyn) und Heilsberg (Lidzbark Warmin´ski), mitten in der stillen Wildnis Ermlands.

Die ländliche, nur dünn besiedelte Region im Nordosten Polens bildete zusammen mit dem Oberland und den Masuren, dem litauische­n Memelland und dem Königsberg­er Gebiet (Kaliningra­der Oblast) bis 1945 die deutsche Provinz Ostpreußen. Einst lebten hier die baltischen Pruzzen. Bevor der Landstrich 1466 als Fürstbistu­m an Polnisch-Preußen und 1772 an das preußische Königreich fiel, war es Teil des Deutschord­ensstaats vom 13. bis ins 15. Jahrhunder­t.

An die ereignisre­iche Vergangenh­eit des unscheinba­ren Landstrich­s erinnert die Route der Masurische­n Befestigun­gsanlagen. Dazu gehören neben wehrhaften Schlössern und Kirchen auch Bunkerkomp­lexe wie die Wolfsschan­ze bei Görlitz (Gierloz),˙ vor allem aber die zahlreiche­n, meist sorgfältig restaurier­ten Ordensburg­en. Zu den bekanntest­en der protzigen gotischen Backsteinb­auten zählen die in Allenstein, Heilsberg und Frauenburg.

Im Haus des Immenhofs klappern Teller und Besteck, denn hier dreht sich gerade alles um das Essen. Während Marta Suppe kocht, stellt ihr Mann, Tomek, Schälchen auf den Tisch und füllt sie mit Honig in allen Bernsteinf­arben – von Dunkelbrau­n bis Beinahe-Weiß. Bevor das Abendessen fertig ist, darf man davon kosten. Eine Sorte schmeckt besser als die andere. Die Erzeuger freuen sich.

Marta und Tomasz Wysokin´ski, beide Ökologen, kamen aus reinem Zufall zu den Bienen. Ein befreundet­er Imker sei schuld gewesen. „Als er in die Stadt umzog, vererbte er uns seine Bienenstöc­ke samt Bewohnern“, erzählt Tomasz Wysokin´ski. Mittlerwei­le tummeln sich 70 Völker in ihrem eigenen Wald. Mit einem jährlichen Honigertra­g von zwei Tonnen revanchier­en sich die fleißigen Insekten für die Pflege.

„Der Boden hier ist nicht sehr fruchtbar. Darum gibt es keine großen Äcker und kaum Probleme mit Agrarchemi­e“, erklärt Tomek. Massenhaft­es Bienenster­ben sei in diesen Breiten noch kein Thema. Schon beim Studium träumte das Paar davon, der Großstadt zu entfliehen – und zwar nach Ermland. „Hier sind Natur und Landleben noch sehr ursprüngli­ch und die Preise günstig“, meint Marta. Diverse Jobs im Ausland und eisernes Sparen halfen ihnen, sich den Traum zu erfüllen. Den Platz dazu hatten sie im Internet entdeckt.

Altes gerettet und ausgebaut

Auf 14 Hektar stehen Eichen, Kiefern und 13 weitere Baumarten. Mittendrin ein ermländisc­hes Bauernhaus, mehr als 100 Jahre alt. Bis Anfang der 1990er wurde das Gehöft bewohnt. Danach lag es lang brach. „Fast alles war kaputt“, berichtet Tomek. Die jungen Eheleute kauften Wald und Hof und schufen daraus ihr Domizil – nicht nur für die eigene Familie. Die drei geräumigen, gemütliche­n Gästezimme­r sind fast stets belegt – die Coronazeit natürlich ausgenomme­n.

„Es spricht sich herum, dass es in Ermland und den Masuren außer den bekannten noch viele andere schöne Plätze gibt“, sagt Artur, der mit seinem Partner Tomas die Landpensio­n Schöner Platz (Fajne Miejsce) betreibt. Das hübsche Häuschen mit dem weitläufig­en Grundstück liegt am Rand des Dorfs Lokau (Tłokowo), dessen prächtige Kirche ein Kleinod gotischer Backsteinb­aukunst ist. Der Ringsee (Jezioro Piers´cien´), den man von dem leicht erhöht liegenden Haus sehen kann, ist nur 150 Meter entfernt. Zwischen den hügeligen Wiesen rundherum findet jeder sein privates Plätzchen. Für Mußestunde­n bieten Artur und Tomas Stoffdruck- oder SeifenWork­shops und vegane Kochkurse an. Hoffentlic­h bald wieder.

Ähnlich wie die Waldimkerf­amilie entschied sich das Designerpa­ar Artur und Tomas für das Landleben und dafür, es mit anderen zu teilen. Und ebenso wie Siedlisko Pasieka gehört ihr liebevoll gepflegtes Anwesen zum regionalen Ökotourism­us-Netzwerk Revita Warmia. Dessen Gründer ist das Künstlerpa­ar Marcelina Mikułowska und Rafał Mikułowski, das im Zentrum von Seeburg (Jeziorany) ein Galerie-Cafe´ betreibt. Unter anderem kann man sich hier über die 26 Biobauernh­öfe, Landpensio­nen und -gasthäuser des Vereins erkundigen.

Käse statt Brautkleid­er

Während einer normalen Sommersais­on findet jeden Samstag auf dem Platz vor der Galerie ein Biomarkt statt. Zwischen neun und zwölf Uhr verkaufen dort Biobauern, Handwerker und Kreative ihre Produkte. Mit dabei sind neben Martas und Tomeks Honig vegane Spezialitä­ten des „mobilen Restaurant­s“von Ewa Pe und Käsespezia­litäten von der Schäferei Lef`evre.

Obwohl es dort nur eine Ferienwohn­ung gibt, mangelt es in den Sommern nicht an Besuchern. „Viele unserer Kunden kommen direkt auf den Hof, um Käse zu kaufen“, sagt Stephane´ Lef`evre. Der Franzose hatte jahrelang Brautkleid­er in Warschau verkauft, wobei er seine Frau, Magdalena, kennenlern­te. Sie heirateten und gingen nach Paris. Dann zog es sie aufs Land. „Während des Studiums hatte ich oft in Ermland zu tun. Ich verliebte mich in seine stille Schönheit und wusste: Wenn ich einmal das Stadtleben aufgebe – dann nur dafür“, erzählt die promoviert­e Landschaft­sarchitekt­in.

2014 zog sie mit Mann und Tochter sowie 17 Lacaune-Milchschaf­en aus Frankreich in das ermländisc­he Kerstinowe­n (Kiersztano­wo) bei Sensburg (Mrcgowo),˛ um eine neue Existenz aufzubauen. Mittlerwei­le blöken in den Ställen 72 Tiere. Aus 1500 Litern Milch stellen die Lef`evres monatlich 300 Kilogramm Käse her, zumeist Roquefort und Frischkäse. Insgesamt sind es zwölf Sorten, darunter Affinierte­s mit Ingwer, Mohn und Feige. Der Käse mit Eichelasch­e heißt Schwarzes Schaf.

Die Langsamkei­t, die man an vielen Orten Ermlands spürt, ist in kleinen Städten wie Heilsberg (Lidzbark Warmin´ski) oder Bischofsbu­rg (Biskupiec) Programm. Denn mit dem Anschluss an die internatio­nale Citt`aslow-Bewegung erhebt man hier die hausgemach­te Lebensqual­ität zum Leitprinzi­p. Aussteiger und Großstadtf­lüchtlinge werden zu Biobauern, und Naturliebh­aber entdecken die Region als individuel­les Reiseziel. Dieser aktuelle Trend verhindert nicht, dass weite Teile Ermlands weiter dahinschlu­mmern.

 ?? [ Carsten Heinke ] ?? Die Wassermühl­e aus dem 16. Jahrhunder­t in Groß Purden/Purda wurde saniert und erweitert. Jetzt ist die Młyn Patryki ein gemütliche­s Gästehaus.
[ Carsten Heinke ] Die Wassermühl­e aus dem 16. Jahrhunder­t in Groß Purden/Purda wurde saniert und erweitert. Jetzt ist die Młyn Patryki ein gemütliche­s Gästehaus.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria