Wo bitte ist denn Ermland?
Polen. Gleich neben den Masuren liegt diese touristisch kaum erschlossene Region. Den stillen Nordosten Polens prägen Waldflächen, Wiesen und Seen. Dazwischen verstecken sich stille Backsteinbauten, werken neue Gastgeber und Biobauern.
Dünne Nebelschwaden wachsen aus dem feuchten Gras. Sein Duft mischt sich mit dem vom Wald. Wie frischer Atem strömt er durch das offne Küchenfenster. Ein Frühlingstag in der Woiwodschaft Ermland-Masuren (Wojewodztwo´ warmin´sko-mazurskie) neigt sich dem Ende zu.
„In Ermland kann man riechen, wenn es Abend wird“, meint Marta Wysokin´ska und holt die Brote aus dem Ofen. Damit sorgt sie für noch mehr Wohlgeruch im Siedlisko Pasieka – zu Deutsch: Bienen- oder Immenhof. Das kleine bäuerliche Anwesen ist ihr Familienwohnsitz, Ferienranch und Imkerei. Es gehört zum Dorf Wonneberg (Studzianka) und liegt in einem Wald am Teich, irgendwo zwischen Allenstein (Olsztyn) und Heilsberg (Lidzbark Warmin´ski), mitten in der stillen Wildnis Ermlands.
Die ländliche, nur dünn besiedelte Region im Nordosten Polens bildete zusammen mit dem Oberland und den Masuren, dem litauischen Memelland und dem Königsberger Gebiet (Kaliningrader Oblast) bis 1945 die deutsche Provinz Ostpreußen. Einst lebten hier die baltischen Pruzzen. Bevor der Landstrich 1466 als Fürstbistum an Polnisch-Preußen und 1772 an das preußische Königreich fiel, war es Teil des Deutschordensstaats vom 13. bis ins 15. Jahrhundert.
An die ereignisreiche Vergangenheit des unscheinbaren Landstrichs erinnert die Route der Masurischen Befestigungsanlagen. Dazu gehören neben wehrhaften Schlössern und Kirchen auch Bunkerkomplexe wie die Wolfsschanze bei Görlitz (Gierloz),˙ vor allem aber die zahlreichen, meist sorgfältig restaurierten Ordensburgen. Zu den bekanntesten der protzigen gotischen Backsteinbauten zählen die in Allenstein, Heilsberg und Frauenburg.
Im Haus des Immenhofs klappern Teller und Besteck, denn hier dreht sich gerade alles um das Essen. Während Marta Suppe kocht, stellt ihr Mann, Tomek, Schälchen auf den Tisch und füllt sie mit Honig in allen Bernsteinfarben – von Dunkelbraun bis Beinahe-Weiß. Bevor das Abendessen fertig ist, darf man davon kosten. Eine Sorte schmeckt besser als die andere. Die Erzeuger freuen sich.
Marta und Tomasz Wysokin´ski, beide Ökologen, kamen aus reinem Zufall zu den Bienen. Ein befreundeter Imker sei schuld gewesen. „Als er in die Stadt umzog, vererbte er uns seine Bienenstöcke samt Bewohnern“, erzählt Tomasz Wysokin´ski. Mittlerweile tummeln sich 70 Völker in ihrem eigenen Wald. Mit einem jährlichen Honigertrag von zwei Tonnen revanchieren sich die fleißigen Insekten für die Pflege.
„Der Boden hier ist nicht sehr fruchtbar. Darum gibt es keine großen Äcker und kaum Probleme mit Agrarchemie“, erklärt Tomek. Massenhaftes Bienensterben sei in diesen Breiten noch kein Thema. Schon beim Studium träumte das Paar davon, der Großstadt zu entfliehen – und zwar nach Ermland. „Hier sind Natur und Landleben noch sehr ursprünglich und die Preise günstig“, meint Marta. Diverse Jobs im Ausland und eisernes Sparen halfen ihnen, sich den Traum zu erfüllen. Den Platz dazu hatten sie im Internet entdeckt.
Altes gerettet und ausgebaut
Auf 14 Hektar stehen Eichen, Kiefern und 13 weitere Baumarten. Mittendrin ein ermländisches Bauernhaus, mehr als 100 Jahre alt. Bis Anfang der 1990er wurde das Gehöft bewohnt. Danach lag es lang brach. „Fast alles war kaputt“, berichtet Tomek. Die jungen Eheleute kauften Wald und Hof und schufen daraus ihr Domizil – nicht nur für die eigene Familie. Die drei geräumigen, gemütlichen Gästezimmer sind fast stets belegt – die Coronazeit natürlich ausgenommen.
„Es spricht sich herum, dass es in Ermland und den Masuren außer den bekannten noch viele andere schöne Plätze gibt“, sagt Artur, der mit seinem Partner Tomas die Landpension Schöner Platz (Fajne Miejsce) betreibt. Das hübsche Häuschen mit dem weitläufigen Grundstück liegt am Rand des Dorfs Lokau (Tłokowo), dessen prächtige Kirche ein Kleinod gotischer Backsteinbaukunst ist. Der Ringsee (Jezioro Piers´cien´), den man von dem leicht erhöht liegenden Haus sehen kann, ist nur 150 Meter entfernt. Zwischen den hügeligen Wiesen rundherum findet jeder sein privates Plätzchen. Für Mußestunden bieten Artur und Tomas Stoffdruck- oder SeifenWorkshops und vegane Kochkurse an. Hoffentlich bald wieder.
Ähnlich wie die Waldimkerfamilie entschied sich das Designerpaar Artur und Tomas für das Landleben und dafür, es mit anderen zu teilen. Und ebenso wie Siedlisko Pasieka gehört ihr liebevoll gepflegtes Anwesen zum regionalen Ökotourismus-Netzwerk Revita Warmia. Dessen Gründer ist das Künstlerpaar Marcelina Mikułowska und Rafał Mikułowski, das im Zentrum von Seeburg (Jeziorany) ein Galerie-Cafe´ betreibt. Unter anderem kann man sich hier über die 26 Biobauernhöfe, Landpensionen und -gasthäuser des Vereins erkundigen.
Käse statt Brautkleider
Während einer normalen Sommersaison findet jeden Samstag auf dem Platz vor der Galerie ein Biomarkt statt. Zwischen neun und zwölf Uhr verkaufen dort Biobauern, Handwerker und Kreative ihre Produkte. Mit dabei sind neben Martas und Tomeks Honig vegane Spezialitäten des „mobilen Restaurants“von Ewa Pe und Käsespezialitäten von der Schäferei Lef`evre.
Obwohl es dort nur eine Ferienwohnung gibt, mangelt es in den Sommern nicht an Besuchern. „Viele unserer Kunden kommen direkt auf den Hof, um Käse zu kaufen“, sagt Stephane´ Lef`evre. Der Franzose hatte jahrelang Brautkleider in Warschau verkauft, wobei er seine Frau, Magdalena, kennenlernte. Sie heirateten und gingen nach Paris. Dann zog es sie aufs Land. „Während des Studiums hatte ich oft in Ermland zu tun. Ich verliebte mich in seine stille Schönheit und wusste: Wenn ich einmal das Stadtleben aufgebe – dann nur dafür“, erzählt die promovierte Landschaftsarchitektin.
2014 zog sie mit Mann und Tochter sowie 17 Lacaune-Milchschafen aus Frankreich in das ermländische Kerstinowen (Kiersztanowo) bei Sensburg (Mrcgowo),˛ um eine neue Existenz aufzubauen. Mittlerweile blöken in den Ställen 72 Tiere. Aus 1500 Litern Milch stellen die Lef`evres monatlich 300 Kilogramm Käse her, zumeist Roquefort und Frischkäse. Insgesamt sind es zwölf Sorten, darunter Affiniertes mit Ingwer, Mohn und Feige. Der Käse mit Eichelasche heißt Schwarzes Schaf.
Die Langsamkeit, die man an vielen Orten Ermlands spürt, ist in kleinen Städten wie Heilsberg (Lidzbark Warmin´ski) oder Bischofsburg (Biskupiec) Programm. Denn mit dem Anschluss an die internationale Citt`aslow-Bewegung erhebt man hier die hausgemachte Lebensqualität zum Leitprinzip. Aussteiger und Großstadtflüchtlinge werden zu Biobauern, und Naturliebhaber entdecken die Region als individuelles Reiseziel. Dieser aktuelle Trend verhindert nicht, dass weite Teile Ermlands weiter dahinschlummern.