Sind wir nicht alle Herr Faustini?
Ganz ungeplant hat Wolfgang Hermann mit „Herr Faustini bekommt Besuch“einen Lockdown-Roman geschrieben. Porträt eines Autors, der seit vielen Jahren von einem schrulligen Herrn und seinen Abenteuern erzählt.
Irgendwann, etwa in der Mitte des Buches, nimmt Herr Faustini den Zug. Und zwar nicht irgendeinen Zug, sondern einen Railjet. Das ist etwas Besonderes für Herrn Faustini, er ist aufgeregt, denn er verreist sonst nicht, er erkundet eher die Gegend. Fährt zwei, drei Stationen mit dem Bus, macht einen ausgedehnten Spaziergang auf der Suche nach „kleinen unscheinbaren Abenteuern“. Und kehrt dann vor der Dämmerung wieder nach Hause zurück. Das muss reichen.
Wir kennen Herrn Faustini schon lange, vier Bücher lang, um genau zu sein. Er war immer eine eher kauzige Figur, von der ich mir vorstellte, sie trage einen Hut, auch wenn sie nie genauer beschrieben wurde. Doch dieser eigentümlich wirkende Mensch, der zurückgezogen in seinem Häuschen lebt, kaum jemanden trifft, es sei denn hin und wieder die Nachbarin, der kein Kino kennt und kein Restaurant, keine Reisen in ferne Länder und kein Bier nach der Arbeit: Dieser Herr Faustini ist plötzlich wie wir. Fehlt nur noch, dass wir uns einen Kater anschaffen.
Wolfgang Hermann ist also unversehens ein Lockdown-Roman gelungen. Geplant war das nicht, er habe das Buch vor zwei Jahren geschrieben, sagt er im Gespräch. Und zwar weil er seine 2006 begonnene Reihe nicht so trist enden lassen wollte. Nicht im Winter. Er wollte ihm noch einen Sommer schenken, seinem Faustini, den „das Leben zurechtgestutzt hat“, so wie es uns alle zurechtstutze, mehr oder weniger, und der ob dieser Erfahrung – es wird nie verraten, was ihm genau zugestoßen ist – bescheiden geworden sei. „Er hat sich mit der Minimallösung des Lebens zufrieden gegeben. Mit den kleinen Dingen. Zuletzt hat er sich ganz in seinem Heim eingeschlossen und sogar mit der Heizung zu reden begonnen.“
Auch Wolfgang Hermann hat das Schicksal „zurechtgestutzt“. Mehr als andere, viel mehr. Er hat einen Sohn verloren, im Alter von 16 Jahren. Bis dahin kannte man ihn als Autor, der mit „In kalten Zimmern“beklemmend und bedrohlich eine Kindheit auf dem Lande schilderte. Der fast lyrisch verdichtete Reise-Erzählungen und hochkomplexe Gedichte schrieb. Und dann hörte man jahrelang nichts mehr von ihm. Wenn er überhaupt veröffentlichte, so hatte er die Texte der Schublade entnommen. „Ich habe gedacht, ich kann nicht mehr schreiben. Es hatte gar keinen Sinn.“
Dann kam 2006 der erste „Faustini“, diese melancholisch-zärtliche, fast naiv anmutende Geschichte über einen seltsam alterslosen, schrulligen Herrn vom Bodensee, mit der Wolfgang Hermann plötzlich eine ganz andere Gruppe von Lesern begeisterte. Und mit der er sich wie Münchhausen am eigenen Schopfe aus dem Sumpf der Verzweiflung zog. „Ich habe mich in eine lichtvollere Welt hineingeschrieben.“
Denn ja, diese Faustini-Romane sind bei allem hintergründigen Schmerz vorwiegend heiter, von einer „Idylle“spricht Hermann, die „immer ein wenig zittert“. Man könnte lernen daraus: wie das geht, Rückzug. Beschränkung. Ruhe. Wie man einen Schicksalsschlag überlebt. Aber auch: wie man wieder zurückfindet ins Leben. In „Faustini bekommt Besuch“(Limbus Verlag) klingelt es eines Tages an der Tür, eine unbekannte Frau steht davor, neben ihr ein genauso unbekannter Bub, den er aber nun kennenlernen wird, es sei nämlich sein Sohn, sagt die Frau. Zwei Wochen lang soll Faustini auf ihn aufpassen. Sie selbst fahre jetzt auf Urlaub. Und bevor Herr Faustini deutlich machen kann, dass er keine Ahnung hat, wovon sie eigentlich redet, dass er sich doch wohl erinnern könnte, aber sich nicht erinnern kann – ist sie weg. Und Herr Faustini allein mit einem sehr, sehr schüchternen Teenager namens Hugo: „Eine Stunde später hob Hugo den Blick“, steht da. „Herr Faustini hatte Eis mit Schlagrahm serviert, da hatte der Junge den Blick nicht länger gesenkt halten können. Jetzt blieb sein Blick oben, obgleich das Eis schon aufgegessen war.“
Nicht bitter, sondern milde
So kehrt das Leben ein. Was nur gelingt, weil Faustini ein freundlicher Mensch ist. Rücksichtsvoll. Weil ihn das Schicksal, obwohl das auch hätte sein können, nicht bitter gemacht hat und nicht zynisch, sondern milde. Und darum ärgert er sich nicht, wenn der neue Sohn bis Mittag schläft, komische Hosen trägt, ewig und noch einmal auf dem Handy taddelt und einen Klingelton eingestellt hat, der Tote aufwecken könnte. Sondern er wundert sich nur leise, kocht Kakao und schlägt einen Ausflug an den See vor. Weil Kinder doch Wasser mögen, oder?
Mittlerweile braucht Wolfgang Hermann den Faustini nicht mehr. Längst hat er andere Töne und Genres für sich wiederentdeckt, er veröffentlicht Gedichte und Kinderbücher, hat mit „Walter oder die ganze Welt“(Limbus Verlag) ein Bändchen über einen Polizisten geschrieben, der tagein, tagaus auf einer Verkehrsinsel die Dornbirner Fahrzeuge dirigiert und auch – über zehn Jahre später – das wunderbar sanfte Klagelied auf seinen Sohn verfasst, der doch nur die Grippe hatte, der doch schon auf dem Weg der Besserung war (Langen Müller Verlag). Derzeit arbeitet Wolfgang Hermann an mehreren Büchern parallel – und auch ein „Herr Faustini“ist darunter. Weil ganz loslassen, sagt er, will er ihn noch nicht.