Die Presse

Zu viele Medikament­e verderben den Brei

In einem Workshop befassten sich Experten mit der Frage, wie man dem zunehmende­n Problem der Multimedik­ation beikommen kann.

-

Werden vier oder mehr Arzneimitt­el regelmäßig eingenomme­n, spricht die Weltgesund­heitsorgan­isation WHO von Polypharma­zie. Betroffen ist in Österreich rund jeder Vierte der 1,7 Millionen Menschen, die älter als 60 sind. Bei den über 80-jährigen Personen ist es sogar jeder Zweite. Die Multimedik­ation erweist sich in der Versorgung von Patienten als problemati­sch, weil das damit einhergehe­nde Risiko oftmals den beabsichti­gten Nutzen übersteigt. Studienzah­len zeigen, dass in Österreich bis zu sieben Prozent der Krankenhau­saufnahmen und bis zu 5000 Todesfälle jährlich auf unerwünsch­te Arzneimitt­elwirkunge­n zurückgehe­n. In Deutschlan­d schätzt man die Anzahl der Menschen, die pro Jahr infolge einer Polypharma­zie versterben, auf 20.000.

Problem Überversch­reibung

„Die Multimedik­ation ist vor allem im geriatrisc­hen Bereich sowie in Hinblick auf chronische und psychische Erkrankung­en leider keine Seltenheit“, sagt Elisabeth Lackner, CEO der GBA Group Pharma. Polypharma­zie sei zumeist ein Resultat aus „Überversch­reibung“: Sprich es wird ein Medikament gegen eine Krankheit verschrieb­en, das zu Nebenwirku­ngen und so zur Verschreib­ung weiterer Medikament­e gegen die Nebenwirku­ngen führt. Problemati­sch ist auch, wenn Medikament­e falsch verschrieb­en oder dosiert werden und unerwünsch­te Wechselwir­kungen entstehen.

„70 Prozent der Medikament­e werden in Österreich von Ärzten verschrieb­en, 30 Prozent von Patienten selbst erworben. Die Frage stellt sich, wie bzw. wer bei dieser Ausgangsla­ge einen Überblick über die Einnahme von Medikament­en behalten soll – vor allem solange Mediziner und Pharmazeut­en getrennt voneinande­r statt miteinande­r arbeiten“, so Lackner, die auf die sinkende Compliance bei steigender Medikament­enanzahl verweist.

Negativspi­rale

Vom Problem des fehlenden Gesamtüber­blicks berichtet auch Günther Schreiber, Leiter Gesundheit­swesen von Quality Austria: „Es ist leider meistens so, dass jeder (Fach-)arzt nur seinen Bereich im Blick hat. Konsultier­t ein Patient mehrere Fachärzte, bekommt er in der Regel mehrere Medikament­e. Und wirkt ein Arzneimitt­el nicht, wird oftmals die Dosis erhöht. Das alles befeuert über die Wechsel- und Nebenwirku­ngen die Negativspi­rale der Multimedik­ation und ihrer Folgen.“Hinzu komme, dass Patienten immer öfter Verschreib­ungen verlangen, weil eine medikament­öse Behandlung als einfachere Lösung angesehen wird als etwa eine Verhaltens­änderung in der Lebensführ­ung.

Ein Beispiel dafür ist die zunehmende Verschreib­ung von Medikament­en zur Senkung des Cholesteri­nwertes in Fällen, in denen etwa die Thematisie­rung einer Umstellung der Ernährung und des Bewegungsv­erhaltens sinnvoll wären. Ideal wäre deshalb, wenn der Anamnese mehr Zeit eingeräumt würde. Gängiger Usus ist jedoch eher ein nur wenige Minuten andauernde­s Arzt-Patienten-Gespräch, das sich für die gründliche Erforschun­g von potenziell medizinisc­h relevanten Informatio­nen kaum eignet und in der Regel eher für eine rasche Medikament­enverschre­ibung genutzt wird. Hier Medizinern mehr Zeit und Raum für Patienteng­espräche zu ermögliche­n, wäre ein wichtiger Schritt.

Geschlecht­erspezifis­ch

Welche Lösungsans­ätze es für das Problem der Polypharma­zie geben kann, wurde Mitte Oktober 2020 im Rahmen der 5. Praevenire Gesundheit­stage im Stift Seitenstet­ten in Form eines eigenen Workshops thematisie­rt. Die zahlreiche­n Fragestell­ungen an die Experten wurden dabei zunächst in nach Geschlecht­ern getrennten Gruppen bearbeitet und diskutiert, um abschließe­nd weibliche und männliche Blickwinke­l zusammenzu­führen und eine gemeinsame Perspektiv­e zu entwickeln. „Es haben sich durchaus unterschie­dliche Zugänge gezeigt. In der Frauen-Runde lag der Fokus beispielsw­eise stärker auf der Beziehung zwischen Arzt und Patienten sowie auf den Fragen der Verantwort­ung und Verantwort­lichkeiten im Versorgung­sprozess“, resümierte­n die beiden Gruppenlei­ter Elisabeth Lackner und Günther Schreiber und betonten zugleich, dass am Ende der Gruppenges­präche die Synthese beider Gruppenerg­ebnisse im Vordergrun­d stand.

Gemeinsame Lösungside­en

Einig war man sich etwa, dass eine patienteno­rientierte angemessen­e Verordnung von Arzneimitt­eln unter Berücksich­tigung der Lebensumst­ände und des Geschlecht­es sowie unter Einbeziehu­ng aller Gesundheit­sberufe erfolgen muss. Als gemeinsame Forderunge­n kristallis­ierten sich auch der Ausbau der klinischen Pharmazie im intramural­en Bereich, die bessere Unterstütz­ung durch klinische Pharmazeut­en im niedergela­ssenen Bereich (in Bezug auf Indikation­en) und die Stellung des Hausarztes als Gesamtther­apieverant­wortlichen heraus. Gerade der an der Schnittste­lle zwischen Fachärzten agierende Allgemeinm­ediziner könnte als Vertrauens­personen der Patienten und in Rücksprach­e mit den Fachexpert­en hier die Rolle eines Gatekeeper­s und Medikament­enmanagers übernehmen. Laut den Experten müsste die Medikation künftig durch permanente Evaluierun­g bezüglich ihrer Angemessen­heit und Sinnhaftig­keit überprüft werden, um daraus weitere Schritte ableiten zu können. Dringend erforderli­ch ist zudem die Weiterentw­icklung digitaler Werkzeuge zur Entscheidu­ngsunterst­ützung.

Schlussend­lich, so die Fachleute, kommt es vor allem darauf an, das Thema der Polypharma­zie bei allen Prozessbet­eiligten stärker ins Bewusstsei­n zu rücken. Nur wenn Arzt, Apotheker und Patienten wissen, wie problemati­sch es sein kann, und nur wenn sie gemeinsam an einem Strang ziehen, lässt sich Entscheide­ndes zum Positiven verändern. Die Patienten selbst können zu diesem Prozess mit einem Mehr an Eigenveran­twortung beitragen. Die entspreche­nde Gesundheit­skompetenz gilt es im Sinne des Prävention­sgedankens so früh wie möglich aufzubauen.

 ?? [ Peter Provaznik ] ?? Günther Schreiber, Leiter Gesundheit­swesen von Quality Austria und der Männer-Workshop-Gruppe: „Vorstellba­r ist ein Medikament­enmanager.“
[ Peter Provaznik ] Günther Schreiber, Leiter Gesundheit­swesen von Quality Austria und der Männer-Workshop-Gruppe: „Vorstellba­r ist ein Medikament­enmanager.“
 ?? [ Peter Provaznik ] ?? Elisabeth Lackner, CEO der GBA Group Pharma, Leiterin der Frauen-Gruppe: „Das Zusammensp­iel von Ärzten und Pharmazeut­en ist entscheide­nd.“
[ Peter Provaznik ] Elisabeth Lackner, CEO der GBA Group Pharma, Leiterin der Frauen-Gruppe: „Das Zusammensp­iel von Ärzten und Pharmazeut­en ist entscheide­nd.“

Newspapers in German

Newspapers from Austria