Das große Potenzial in der Zahnmedizin
Verankerung im öffentlichen Bewusstsein der Bedeutung gesunder Zähne, Fokus auf die Prävention, zukunftsfite Ausbildungen – Expertengedanken zur Gestaltung einer modernen Zahnmedizin.
Dass die Zahnmedizin einen wichtigen Teil der Medizin darstellt, ist in der öffentlichen Wahrnehmung in den letzten 20 Jahren leider etwas untergegangen. Hier gilt es gegenzusteuern“, sagt Gerald Jahl, Facharzt für Zahn-, Mund und Kieferheilkunde. Der Autor des Buches „Zahn um Zahn“bringt damit ein Grundsatzproblem aufs Tapet, das auch von Susanne Schöberl, Ärztin in der NÖ Patienten- und Pflegeanwaltschaft, unterstrichen wird: „Man gewinnt den Eindruck, dass die Entwicklungen in der Zahnmedizin nicht ausreichend wahrgenommen werden.“Das betreffe nicht nur die Thematisierung der Disziplin im medizinischen Kontext, sondern auch die Repräsentation und Wirkung nach außen.
Schnittstelle Humanmedizin
„Es gibt ein Imageproblem in der Außendarstellung“, bringt es Franz Schuster, Stv. Leitender Zahnarzt der ÖGK, auf den Punkt. Im öffentlichen Bewusstsein ist zu wenig verankert, dass die Auswirkungen zahnmedizinischer Problematiken weit über die Mundhöhle hinausgehen und auf den Organismus als Ganzes beachtlich sein können. Dieses Bewusstsein sollte gestärkt werden. Schließlich umfasst die Zahnmedizin ein größeres Spektrum als nur den Zahn und muss dementsprechend auch in der Debatte emanzipiert und positioniert werden.
Die Berührungspunkte zwischen der Zahnmedizin und anderen Disziplinen, im Speziellen die Humanmedizin, betont auch Franz Watzinger, Leiter der Universitätsklinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie, Karl Landsteiner Privatuniversität für Gesundheitswissenschaften – und nennt ein konkretes Beispiel: „Es ist bei Zahnextraktionen ein banales, oftmals auftretendes Problem, dass es zu Nachblutungen kommen kann. Zugleich gibt es sehr viele Menschen, die blutverdünnende Medikamente einnehmen. Ein Nicht-Beachten solcher Umstände kann schwerwiegende Komplikationen nach sich ziehen.“Dementsprechend wichtig sei es, dass es ein Zusammenwirken zwischen Zahnärzten in Ordinationen und universitären Kliniken gibt. Hier fehlt der Austausch mit anderen medizinischen Experten.
Fokus auf die Ausbildung
Einig sind sich die Fachleute, dass man diesem Problem bereits in der Ausbildung entgegenwirken kann. „Wünschenswert ist unter anderem, dass man in der Zahnarztausbildung den chirurgischen Aspekt wesentlich mehr in den Fokus rückt“, so Watzinger. Sinnvoll wäre es etwa, ein Praxisjahr, wie es aus der humanmedizinischen Ausbildung bekannt ist, verpflichtend einzuführen.
So könnten Jungmediziner unter der Anleitung von erfahrenen Ärzten lernen und von deren Expertise profitieren. Das würde den Praxiswissentransfer institutionalisieren. Dazu müsste aber die Qualität der Ausbildungsstätten zuvor evaluiert und eine Lehrpraxenregelung geschaffen werden. Nur so lässt sich eine Qualitätssicherung in der Versorgung gewährleisten.
Prävention statt Reparatur
Zu beobachten ist in den letzten Jahren im öffentlichen Diskurs eine Tendenz zur Überbetonung von Ästhetik. „In den Mittelpunkt sollen immer gesunde Zähne mit möglichst viel eigener Zahnsubstanz und nicht noch weißere und geradere Zähne gestellt werden. Ästhetik darf und soll nicht (alleiniger) Sinn und Zweck der Zahnbehandlung sein, sondern ein positiver Nebeneffekt einer gesundheitlich orientierten Behandlung“, meint dazu Schuster.
Ebenfalls von Bedeutung ist es, dass die Zahnmedizin nicht zur Reparaturmedizin verkommen dürfe. „Nur 50 bis 60 Prozent in der österreichischen Bevölkerung gehen zumindest einmal pro Jahr zum Zahnarzt. Und wenn dann meistens nur, wenn es bereits ein Problem gibt, das ,repariert‘ werden muss“, sagt Sven Arne Plass, Mitarbeiter des Zahnmedizinischen Dienstes der Österreichischen Gesundheitskasse, ÖGK.
„90 Prozent der Menschen suchen erst dann den Zahnarzt auf, wenn sie bereits Schmerzen haben. Das zeigt, wie wenig die richtige Vorsorge im Bewusstsein der Bevölkerung verankert ist“, bestätigt Schuster. Der Aspekt der Prävention werde vernachlässigt, was schlussendlich nicht nur dem Patienten schadet, sondern das gesamte Gesundheitssystem mit Mehrkosten belastet.
Kompetenz & Gerechtigkeit
Eine Option, die Vorsorge zu stärken, sehen die Experten beispielsweise darin, analog zum Modell des Mutter-Kind-Passes einen Gesundheitspass einzuführen, bei dem bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres ein kostenfreier Zugang zu Mundhygiene- und Parodontalbehandlungen in festgesetzten Intervallen ermöglicht wird. Danach wären die Behandlungen von den Patienten selbst zu bezahlen. Das könnte die so wichtige Gesundheitskompetenz der Menschen bereits in jungen Jahren fördern und das Bewusstsein herausbilden, wie wichtig gerade bei der Zahngesundheit eine frühe und regelmäßige Kontrolle ist.
Neben Initiativen zur frühen Kompetenzförderung dürfe jedoch, so Gerald Jahl, auch die ältere Generation nicht vergessen werden: „Im Moment ist es leider so, dass Senioren nicht zeitgerecht behandelt werden. Vor allem für Mindestpensionsbezieher wäre es zudem wichtig, dass die Behandlungen auch kostengünstiger oder gar kostenfrei wären.“
Für Susanne Schöberl mangelt es im aktuellen System generell an der sozialen Ausgewogenheit und Gerechtigkeit: „Es besteht eine sozioökonomische Kluft zwischen jenen, die sich adäquate zahnärztliche Versorgung leisten können und jenen, die dies nicht können.“Insofern, so die Diskutanten einstimmig, besteht eine Dringlichkeit zur Überarbeitung des Honorarkatalogs für zahnärztliche Leistungen. In Zusammenarbeit mit der Zahnärztekammer und den Sozialversicherungsträgern sollte der Katalog zugunsten der Patienten angepasst werden. Um die Zahnmedizin weiterhin finanzierbar und leistbar zu halten, plädiert Sven Arne Plass in diesem Zusammenhang für „eine der demografischen Veränderungen, also der alternden Bevölkerung, angepassten Verschiebung der Versorgungszyklen“.
Niederschwelliger Zugang
Zur Diskussion standen bei der Expertenrunde auch die Strukturen am Land, die als verbesserungswürdig gelten. Einig ist man sich, dass es wichtig ist, den Menschen im ländlichen Raum einen niederschwelligen Zugang zur Zahnmedizin zu ermöglichen. „Aktuell ist es leider so, dass Zahnärzte zögern aufs Land zu ziehen, da das Investment eine neue Praxis zu eröffnen sehr groß ist. Zudem decken sich die Möglichkeiten am Land den Zahnarztberuf auszuüben nicht mit den Interessen und der Ausbildung jener Zahnärzte, die moderne Behandlungsmethoden anwenden möchten“, sagt Gerald Jahl. Es gelte, Kassenstellen hier attraktiver zu gestalten. Dafür braucht es nicht zuletzt Anreize finanzieller Natur.
Eine weitere Idee, um einen niederschwelligen Zugang zu fördern, besteht in der Integration von Zahnarztordinationen beziehungsweise Gruppenpraxen für Zahnärzte in Primärversorgungszentren. Für Susanne Schöberl sind die sogenannten PVEs, wie sie im allgemeinen medizinischen Sektor existieren, auch ein taugliches Modell für die Zahnmedizin: „Das Zahnambulatorium in St. Pölten ist diesbezüglich ein echtes Vorzeigebeispiel, an dem man sich orientieren sollte.“
Qualität kommunizieren
Als „niederschwelligen Zugang“scheinen viele Menschen – so ein weiteres Problemfeld der heimischen Zahnmedizin – das Zahnarztangebot im naheliegenden Ausland zu sehen. Fakt ist, dass der grenzüberschreitende Patientenverkehr seit Jahren boomt und der Zahnarztbesuch in Österreichs Nachbarländern, wie zum Beispiel Tschechien oder Ungarn, Patienten in der Regel wesentlich günstiger kommt – was nicht zuletzt mit der heimischen Tarifstruktur zu tun hat, da viele zahnärztliche Leistungen privat bezahlt werden müssen und nicht von der Kasse übernommen werden.
Dass Patienten bei der Wahl des Zahnarztes qualitative Unterschiede außer Acht lassen und nur die Preise vergleichen, ortet Gerald Jahl bei diesem Thema als eines der ursächlichen Probleme: „Es fehlt hier eindeutig an Qualitätsbewusstsein. Man muss leider feststellen, dass viele Patienten in diesem Bereich nicht ausreichend informiert sind.“Fragen, was genau bei zahnärztlichen Behandlungen passiert und welche Behandlungsformen welche kurz- und langfristigen Folgen haben können, stehen leider zu sehr im Hintergrund.
Einigkeit herrscht unter den Experten, dass dieser Missstand zu beheben ist, wenn man der Bevölkerung dabei hilft Expertise aufzubauen. Das sei nicht zuletzt auch eine Informationsaufgabe der Zahnärzte. Der informierte, bestens beratene und wissende Patient ist einer, den man über die Qualität im eigenen Land behalten kann.
Die meisten Menschen gehen erst mit Problemen zum Zahnarzt. Es mangelt am Vorsorgebewusstsein.
Gerald Jahl
Es besteht eine sozioökonomische Kluft zwischen jenen, die sich adäquate zahnärztliche Versorgung leisten können und jenen, die dies nicht können.
Susanne Schöberl
Mangelnde Prävention schadet nicht nur dem Patienten, sondern belastet auch das gesamte System mit Mehrkosten.
Franz Schuster