Vampire in der Provinz: „Morituri“von Olga Flor
Olga Flor lässt in ihrem Roman „Morituri“moderne Blutsauger und ihre Opfer auftreten. Ein biomedizinisches Zentrum auf dem Land wirbt mit der Verjüngung von alten Zellen, eine Bürgermeisterin verstrickt sich in russische Geldgeschäfte – grandios, böse und
Das Land ist auch nicht mehr das, was es einmal war. Aber was war es einmal? Eine idyllische Ansammlung von blumengesäumten Häusern mit Satteldach und rechtschaffenen, hart arbeitenden Menschen darin, die aufeinander schauen, oder ein unheimliches Konglomerat von hässlichen Persiflagen auf ebensolche Häuser, umzäunt von kränkelnden Thujenhecken? Mit Bewohnern, die täglich in die nächstgelegene große Stadt pendeln müssen und durch ihre mobilitätshörige Lebensweise das dörfliche Leben ad absurdum führen?
Zwischen diesen beiden Extrempositionen befindet sich wohl das wahre Landleben oder das Ländliche oder auch: Es ist die Summe aller Vorstellungen, die sich die Menschen darüber machen. Mit diesen operiert die österreichische Autorin Olga Flor in ihrem jüngsten Roman „Morituri“und packt wieder ihr wohlbekanntes literarisches Sezierbesteck aus. Sie setzt eine Handvoll Protagonisten auf einem moorigen Landstrich aus – eine Versuchsanordnung –, denn Olga Flor ist auch Naturwissenschaftlerin. Ihrem mikroskopischen Blick entgeht nichts.
„Die Vorstadt hat das Land längst eingeholt, so weit kannst du gar nicht hinausmigrieren, als dass sie nicht schon vor dir da wäre“, sagt Maximilian, der seine Stadtwohnung gegen einen „gut geputzten Bungalow aus den 50er-Jahren“auf dem Land eingetauscht hat. Warum er gerade hier ist, in dieser Gegend, ist ihm gar nicht mehr so klar, am ehesten aus „Wut, im Wunsch, einfach ganz was Neues anzufangen“.
Aus seinem Architektenberuf ist er ausgestiegen und hat sich hier ein Glashaus für Gemüse gebaut, neben dem Pool. Als Bienen- und Hühnerzüchter will er nun den regionalen Genussbauernmarkt bedienen und ist bereit für sein Restleben: „Das Kind fertig, die Beziehung gütlich erledigt, das Haus abbezahlt, die Mutter noch kein Pflegefall, der eigene Körper noch gut am Laufen.“Das Kind, Ruth, ist im Moment noch Risikomanagerin und schaut manchmal auf die Hühner. Beste Voraussetzungen für Maximilians Selbstfindung, zu der auch die Partnersuche auf den allgegenwärtigen digitalen Partnerschaftsbörsen gehört, obwohl ihn ein zwangloses Verhältnis mit der ansässigen Trafikantin verbindet („Sie hatten durchaus Freude aneinander“).
Ein zeitgenössischer Mensch ohne besondere Auffälligkeiten, der sich durch nichts von Tausenden anderen unterscheidet und der einem aus zahlreichen Landkrimis bekannt vorkommen mag, würde es sich nicht um eine Flor’sche Figur handeln. Flor’sche Figuren wollen dann doch ein bisschen mehr, sie reflektieren ständig, oft bis zur Selbstzerfleischung, und kommen bisweilen auf bizarre Gedanken.
Dazu später, schließlich gibt es noch andere vereinzelte Existenzen, die auf ihrer Suche nach Sex, Geld und Authentizität straucheln und kurz vorgestellt werden wollen: die Bürgermeisterin, die in Flächenum-widmungsangelegenheiten und Cum-ExGeschäfte mit einem russischen staatsnahen Geldinstitut verstrickt ist, besagte Ruth, die eine Umschulung zur Journalistin anstrebt, die Redenschreiberin des Präsidenten, die auf den einen Satz hofft, der von ihr bleiben wird, ein rechtsradikaler Attentäter, der beständig die Reaktionen seiner Follower mitdenkt, Jackie und Alfons, beide Unternehmer und das einzige Ehepaar – was aber nichts heißen mag; er geht fremd mit der Bürgermeisterin, sie treibt sich „gelegentlich auf Datingplattformen herum“.
Doch zurück zu Maximilian, der sich als Versuchskaninchen zur Verfügung stellt. Hier nun entfaltet sich Flors groteskes, visionäres und bitterböses Potenzial: Im neuen biomedizinischen Zentrum, dem Good Life Center, werden Parabiosen durchgeführt. Das bedeutet in diesem Fall, zwei Blutkreisläufe werden miteinander verbunden, wobei der ältere Organismus (Maximilian) vom jüngeren (einem Asylwerber) profitieren soll. Flor hebt das uralte Blutsauger- und Vampirthema auf eine neue Ebene, eingebettet in einen medizinisch-klinischen Kontext, der Spender erhält Vergünstigungen (eine Aufenthaltsgenehmigung), beim Empfänger frischen sich die Zellen auf, die Körper und Geist verjüngen sollen. Das Zentrum ist der übergeordnete Apparat, hinter dem Politiker und Investoren ihre Fäden ziehen. Den einen Menschen wird das Geld abgesaugt, den anderen ihre jungen Zellen.
Maximilian und Maurice (der junge Asylwerber) sind einige Wochen durch einen Port miteinander verbunden, durch den ihr Blut sich vermischt, ihre Stoffwechsel und Schlafrhythmen werden medikamentös synchronisiert. Bei Armbewegungen müssen sie natürlich aufpassen, die Schläuche ziepen und reißen sonst an den Körperanschlüssen. Auf Revers dürfen sie das Klinikgelände verlassen und joggen oder spazieren gehen, als symbiotisches Paar auf Zeit. Dabei werden sie vom zukünftigen Attentäter beobachtet, der in ihnen ein homosexuelles interkulturelles Paar erkennen will: „Die Homosexualität werde nun auch schon eingesetzt, um der noch unverfälschten Landbevölkerung das Rückgrat zu brechen.“Das Schlimmste freilich sei „diese Vorherrschaft der Frauen. Da hatte das Pendel in die falsche Richtung ausgeschlagen.“Er ist ein klassischer Incel – zumindest hat er nun Material für neue Posts.
Flors Sinn für handfeste Komik trägt den Leser durch den harten Stoff, ihre schnörkellose, aber doch kunstvolle Sprache verdeckt oft die tieferen Schichten, das Unbewusste, das sich dann umso brutaler Bahn bricht. Laut Daniela Strigl stammen einige der wichtigsten Bücher der deutschsprachigen Literatur von Olga Flor, auch „Morituri“könnte bald dazugehören, als Protokoll einer Gesellschaft, in der sich die Individuen immer weiter voneinander entfernen, auch ohne Corona-Pandemie, und einander nur noch benutzen als Mittel zu diversen Zwecken.
Das Romanpersonal findet sich am Ende zu einem furiosen Finale zusammen, zu einem Aufmarsch all dessen, was das Dorf zu bieten hat: Trachtenkapelle, Volkstanzgruppe, „ein Spalier an Selfiestickhaltern“, alles für den großen Auftritt des Präsidenten zur offiziellen Eröffnung des biomedizinischen Zentrums. Beim Anblick ihres Präsidenten erleidet die Bürgermeisterin „einen Akutorgasmus inklusive Kreislaufkollaps“und sinkt in einen astreinen Hofknicks – die köstliche Karikatur auf eine ehemalige Außenministerin, der es einst gelungen ist, den russischen Autokraten zu ihrer Hochzeit in die steirische Weinstraße zu locken. Das Moor hält im Übrigen auch noch eine Überraschung bereit. „Morituri“ist ein grandioser, böser und komischer Roman, bei dem einem bisweilen das Lachen schon ziemlich weit oben im Hals stecken bleibt.