Die ganze Familie ist ein Schwindel
Film. Elternliebe? Nur, wenn ein Scheckbuch als Beute winkt! Die schräge Trickbetrüger-Tragikomödie „Kajillionaire“beglückt nun im Streaming statt im Kino.
Die schräge Trickbetrüger-Tragikomödie „Kajillionaire“kommt per Streaming statt im Kino.
Wie tröstlich muss es sein, im Kreis der Familie zu sterben. Der alte Mann liegt im Bett und versucht, sanft zu entschlafen. Drüben im Wohnzimmer herrscht reges Treiben. Man hört Besteck klappern, ein Mädchen spielt Klavier, die Mutter fragt, wie es in der Schule war, der Vater witzelt, ob er wohl heute endlich den Rasen mähen wird. Die Sonne strahlt durchs Fenster. Familienleben in seiner wunderbaren, faden Durchschnittlichkeit – wenn es nur echt wäre. Und die „Familie“nicht eigentlich eine Bande von Kleinbetrügern, die das Schauspiel nutzt, um dem alten Mann sein Scheckbuch abzuluchsen.
Die Szene erzählt viel über das Selbstverständnis der Gaunersippe Dyne, um die sich „Kajillionaire“dreht. Die Tragikomödie der amerikanischen Universalkünstlerin Miranda July war schon bei der Viennale zu sehen, hätte im November einen Kinostarttermin gehabt – und ist nun ohne viel Aufhebens im Kauf- und Leihangebot diverser Streamingdienste gelandet. Ein trauriges Schicksal für einen Film, der so wunderbar melancholisch und schrullig und originell, der zärtliches Familienporträt und hintersinnige Kapitalismusparabel zugleich ist.
Natürlich könnten Vater Robert (Richard Jenkins), Mutter Theresa (Debra Winger) und Tochter Old Dolio (Evan Rachel Wood) den wehrlosen Alten einfach ausrauben – aber es ist nun mal ihr Stil, dass sie für jeden ihrer armseligen Coups einen gewissen Aufwand betreiben. So geht dem Postraub, bei dem Old Dolio mit wendigem Arm vom eigenen Postfach aus die nebenstehenden ausräumt, eine ausgeklügelte turnerische Choreografie voraus. Vielleicht lässt sich der erbeutete Kleinkram ja zu Geld machen?
Für die Miete reicht’s trotzdem nicht. Die Dynes wohnen im desolaten Bürotrakt einer Seifen(blasen)fabrik namens Bubbles, Inc., wo sie den rosa Schaum abschöpfen müssen, der täglich zur selben Uhrzeit durch die Deckenritze quillt. Nicht nur hier weckt „Kajillionaire“Erinnerungen an den koreanischen Oscar-Sieger „Parasite“, in dem die Wohnsituation der findigen Schmarotzer-Familie ähnlich prekär ist und die Darstellung der Klassenunterschiede ähnlich grotesk.
Stolze Außenseiter im sonnigen L. A.
Doch die Dynes fühlen sich überlegen in ihrer Armut. Sie repräsentieren eine interessante Version von selbstgewähltem Außenseitertum im strahlenden Los Angeles: ein bisschen hippieske Aussteiger, ein bisschen Verschwörungstheoretiker, jedenfalls Systemverweigerer. Meinen sie zumindest: Nach außen hin trotzen sie dem Diktat von Geld, Lohnarbeit und Konsum. Eigentlich spielen sie aber doch mit, wenn sie sich nach einer Gaunerei als Allererstes einen Whirlpool kaufen, oder wenn Richard begeistert über die gestohlene Krawatte fachsimpelt: Die sieht gar nicht billig aus!
Auch Liebe hat hier ihren Preis, und der ist hoch: Die Dynes sind keine Familie, sie spielen höchstens eine, wenn ein Scheckbuch als Beute winkt. Für Zuneigung bleibt in dieser Zweckgemeinschaft kein Platz. Geburtstagsgeschenke, Umarmungen, Pancakes zum Frühstück? Alles nur Auswüchse einer verweichlichten Gesellschaft!
Darunter leidet die 26-jährige Old Dolio (ja, selbst ihre Namensgebung war Teil einer missglückten Betrugsmasche). Wood ist grandios in der Rolle der emotional verwahrlosten, innerlich brodelnden Kindfrau. Als mit der selbstbewussten Melanie (Gina Rodriguez) eine Komplizin dazukommt, die in ihren rosa Bauchleiberln auch äußerlich der komplette Gegenentwurf zu Old Dolio in ihrem formlosen Trainingsanzug ist, setzt das eine emotionale Erweckung in Gang – und eine Handlung, die stets mit unerwarteten Pointen zu überraschen vermag.
Miranda July, Expertin für schön verschrobene Tragikomödien, gelingt hier ein raffiniertes Kunststück. Zur verträumt-nostalgischen Filmmusik von Emile Mosseri – darunter eine hauchzarte Version von „Mr. Lonely“– baut sie eine surreale Welt, durch die doch glasklarer Realismus durchscheint: familiäre Abhängigkeiten, der Teufelskreis von Armut und Verbitterung, Hunger nach Geborgenheit. Seelische Erschütterungen bekommen hier seismologische Entsprechungen – alle warten auf das große Erdbeben, „the big one“–, kleine Momente verbinden sich zu fantastischer Komplexität. Mögen die Figuren und ihr Verhalten noch so grotesk sein – die Darstellung ihrer Beziehungen und Gefühle bleibt überaus zart und intim. Ein beglückender Film!