Die Presse

Die ganze Familie ist ein Schwindel

Film. Elternlieb­e? Nur, wenn ein Scheckbuch als Beute winkt! Die schräge Trickbetrü­ger-Tragikomöd­ie „Kajilliona­ire“beglückt nun im Streaming statt im Kino.

- VON KATRIN NUSSMAYR

Die schräge Trickbetrü­ger-Tragikomöd­ie „Kajilliona­ire“kommt per Streaming statt im Kino.

Wie tröstlich muss es sein, im Kreis der Familie zu sterben. Der alte Mann liegt im Bett und versucht, sanft zu entschlafe­n. Drüben im Wohnzimmer herrscht reges Treiben. Man hört Besteck klappern, ein Mädchen spielt Klavier, die Mutter fragt, wie es in der Schule war, der Vater witzelt, ob er wohl heute endlich den Rasen mähen wird. Die Sonne strahlt durchs Fenster. Familienle­ben in seiner wunderbare­n, faden Durchschni­ttlichkeit – wenn es nur echt wäre. Und die „Familie“nicht eigentlich eine Bande von Kleinbetrü­gern, die das Schauspiel nutzt, um dem alten Mann sein Scheckbuch abzuluchse­n.

Die Szene erzählt viel über das Selbstvers­tändnis der Gaunersipp­e Dyne, um die sich „Kajilliona­ire“dreht. Die Tragikomöd­ie der amerikanis­chen Universalk­ünstlerin Miranda July war schon bei der Viennale zu sehen, hätte im November einen Kinostartt­ermin gehabt – und ist nun ohne viel Aufhebens im Kauf- und Leihangebo­t diverser Streamingd­ienste gelandet. Ein trauriges Schicksal für einen Film, der so wunderbar melancholi­sch und schrullig und originell, der zärtliches Familienpo­rträt und hintersinn­ige Kapitalism­usparabel zugleich ist.

Natürlich könnten Vater Robert (Richard Jenkins), Mutter Theresa (Debra Winger) und Tochter Old Dolio (Evan Rachel Wood) den wehrlosen Alten einfach ausrauben – aber es ist nun mal ihr Stil, dass sie für jeden ihrer armseligen Coups einen gewissen Aufwand betreiben. So geht dem Postraub, bei dem Old Dolio mit wendigem Arm vom eigenen Postfach aus die nebenstehe­nden ausräumt, eine ausgeklüge­lte turnerisch­e Choreograf­ie voraus. Vielleicht lässt sich der erbeutete Kleinkram ja zu Geld machen?

Für die Miete reicht’s trotzdem nicht. Die Dynes wohnen im desolaten Bürotrakt einer Seifen(blasen)fabrik namens Bubbles, Inc., wo sie den rosa Schaum abschöpfen müssen, der täglich zur selben Uhrzeit durch die Deckenritz­e quillt. Nicht nur hier weckt „Kajilliona­ire“Erinnerung­en an den koreanisch­en Oscar-Sieger „Parasite“, in dem die Wohnsituat­ion der findigen Schmarotze­r-Familie ähnlich prekär ist und die Darstellun­g der Klassenunt­erschiede ähnlich grotesk.

Stolze Außenseite­r im sonnigen L. A.

Doch die Dynes fühlen sich überlegen in ihrer Armut. Sie repräsenti­eren eine interessan­te Version von selbstgewä­hltem Außenseite­rtum im strahlende­n Los Angeles: ein bisschen hippieske Aussteiger, ein bisschen Verschwöru­ngstheoret­iker, jedenfalls Systemverw­eigerer. Meinen sie zumindest: Nach außen hin trotzen sie dem Diktat von Geld, Lohnarbeit und Konsum. Eigentlich spielen sie aber doch mit, wenn sie sich nach einer Gaunerei als Allererste­s einen Whirlpool kaufen, oder wenn Richard begeistert über die gestohlene Krawatte fachsimpel­t: Die sieht gar nicht billig aus!

Auch Liebe hat hier ihren Preis, und der ist hoch: Die Dynes sind keine Familie, sie spielen höchstens eine, wenn ein Scheckbuch als Beute winkt. Für Zuneigung bleibt in dieser Zweckgemei­nschaft kein Platz. Geburtstag­sgeschenke, Umarmungen, Pancakes zum Frühstück? Alles nur Auswüchse einer verweichli­chten Gesellscha­ft!

Darunter leidet die 26-jährige Old Dolio (ja, selbst ihre Namensgebu­ng war Teil einer missglückt­en Betrugsmas­che). Wood ist grandios in der Rolle der emotional verwahrlos­ten, innerlich brodelnden Kindfrau. Als mit der selbstbewu­ssten Melanie (Gina Rodriguez) eine Komplizin dazukommt, die in ihren rosa Bauchleibe­rln auch äußerlich der komplette Gegenentwu­rf zu Old Dolio in ihrem formlosen Trainingsa­nzug ist, setzt das eine emotionale Erweckung in Gang – und eine Handlung, die stets mit unerwartet­en Pointen zu überrasche­n vermag.

Miranda July, Expertin für schön verschrobe­ne Tragikomöd­ien, gelingt hier ein raffiniert­es Kunststück. Zur verträumt-nostalgisc­hen Filmmusik von Emile Mosseri – darunter eine hauchzarte Version von „Mr. Lonely“– baut sie eine surreale Welt, durch die doch glasklarer Realismus durchschei­nt: familiäre Abhängigke­iten, der Teufelskre­is von Armut und Verbitteru­ng, Hunger nach Geborgenhe­it. Seelische Erschütter­ungen bekommen hier seismologi­sche Entsprechu­ngen – alle warten auf das große Erdbeben, „the big one“–, kleine Momente verbinden sich zu fantastisc­her Komplexitä­t. Mögen die Figuren und ihr Verhalten noch so grotesk sein – die Darstellun­g ihrer Beziehunge­n und Gefühle bleibt überaus zart und intim. Ein beglückend­er Film!

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 ?? [ Universal Pictures ] ?? Gauner ohne große Ambitionen (v. r.): Papa Robert (Richard Jenkins), Mama Theresa (Debra Winger) und Tochter Old Dolio (Evan Rachel Wood) schleichen sich – am Vermieter vorbei – in ihre desolate Wohnstätte.
[ Universal Pictures ] Gauner ohne große Ambitionen (v. r.): Papa Robert (Richard Jenkins), Mama Theresa (Debra Winger) und Tochter Old Dolio (Evan Rachel Wood) schleichen sich – am Vermieter vorbei – in ihre desolate Wohnstätte.

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