Erdo˘gan gibt nun den Hüter der Menschenrechte
Türkei. Neuer Aktionsplan des Präsidenten stößt bei Kritikern auf Skepsis.
Der türkische Präsident, Recep Tayyip Erdogan,˘ hat versprochen, Rechtsstaat und Menschenrechte zu stärken. Am Dienstag stellte er die Grundzüge eines „Aktionsplans Menschenrechte“vor, der fast 400 Einzelmaßnahmen umfassen soll. Die Regierung will demnach die Meinungsfreiheit und Frauenrechte stärken, Gerichtsverfahren beschleunigen und Investitionen erleichtern. Nächtliche Festnahmen von Menschen, um sie zum Verhör zu bringen, soll es nicht mehr geben.
Erdogan˘ will so das Image seines Landes nach der Verfolgung von Regierungsgegnern in den vergangenen Jahren aufpolieren. Zudem will er die EU dazu bringen, die Visapflicht für Türken aufzuheben. Menschenrechtler bezeichnen die Ankündigungen als „Schönfärberei“. Grundlegende Veränderungen seien nicht zu erwarten.
Hoffen auf Investoren
Seit dem Putschversuch von 2016 hat die Regierung Zehntausende mutmaßliche Gegner, darunter Oppositionspolitiker und Journalisten, ins Gefängnis werfen lassen. Die Justiz wurde durch ein von der Regierung kontrolliertes Aufsichtsgremium auf Linie gebracht; von einem Rechtsstaat im europäischen Sinn kann nach Einschätzung der EU keine Rede sein. Seit der Zuspitzung der türkischen Wirtschaftskrise im Herbst kündigte Erdogan˘ ein Reformpaket an. Eine Stärkung des Rechtsstaates ist eine Voraussetzung dafür, die Türkei für Investoren wieder attraktiver zu machen. Erdogan˘ will auch das Verhältnis zur EU verbessern.
Der Aktionsplan sollte ein Befreiungsschlag werden. Doch die Regierung steht nach Ansicht von Kritikern vor einer unlösbaren Aufgabe: Echte Reformen würden Erdogans˘ Macht einschränken. Der Plan, den der Präsident in der einstündigen Rede vorstellte, blieb daher weit hinter den Erwartungen von Menschenrechtlern zurück.
Neun Hauptzielen folgend verspricht der Plan „ein freies Individuum, eine starke Gesellschaft und eine demokratischere Türkei“. Der Präsident stellte sich hinter die sogenannte Istanbul-Konvention zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen und kündigte an, dass Meinungs-, Versammlungs- und Religionsfreiheit gestärkt würden. Die Ausbildung der Richter, Staatsanwälte und Polizisten soll verbessert und Gerichtsverfahren sollen transparenter werden. Christen und Juden bekommen an eigenen religiösen Feiertagen Urlaub. Weitere Maßnahmen sollen folgen.
Erdogan˘ bekräftigte seine Forderung nach einer neuen Verfassung für die Türkei. Seine Regierungspartei AKP und ihre nationalistische Koalitionspartnerin MHP argumentieren, dass die derzeitige Verfassung, die unter Militärherrschaft entstand, durch ein ziviles Grundgesetz ersetzt werden müsse. Regierungsgegner vermuten, dass Erdogan˘ mit der neuen Verfassung seine Macht zementieren will.
Auch der „Aktionsplan Menschenrechte“überzeugt Kritiker nicht: Der Druck auf Andersdenkende mache den Plan unglaubwürdig. Nur wenige Stunden vor Erdogans˘ Rede verlangte sein Koalitionspartner, MHP-Chef Devlet Bahceli,¸ das Verbot der prokurdischen HDP. Die Justiz ermittelte in den vergangenen Jahren gegen Zehntausende Türken wegen Präsidentenbeleidigung. Der Ex-HDPVorsitzende Selahattin Demirtas¸ und der Kulturförderer Osman Kavala sitzen seit Jahren im Gefängnis, obwohl der Europäische Menschenrechtsgerichtshof ihre Freilassung angeordnet hat. Erdogan˘ erwähnte diese Fälle nicht.
„Die Rede war Schönfärberei“
Erdogan˘ selbst sei für den schlechten Zustand des Rechtsstaates verantwortlich, sagt Erol Önderoglu,˘ Türkei-Vertreter von Reporter ohne Grenzen, zur „Presse“. Deshalb sei die Rede nur „Schönfärberei“. Önderoglu˘ wies darauf hin, dass Erdogan˘ nichts über strukturelle Veränderungen gesagt habe, um die Justiz vom Einfluss der Regierung zu befreien. Im Mai muss Önderoglu˘ wegen angeblicher Terrorpropaganda vor Gericht.
Erdogan˘ habe nichts Konkretes zur Lösung der wirklichen Menschenrechtsprobleme vorgeschlagen, sagt Emma SinclairWebb von Human Rights Watch zur „Presse“. Und die Historikerin Ayse Gür verglich den Präsidenten auf Twitter mit einem Fleischhauer, der sich plötzlich als Experte für vegetarische Ernährung aufspiele.