Die Presse

Erdo˘gan gibt nun den Hüter der Menschenre­chte

Türkei. Neuer Aktionspla­n des Präsidente­n stößt bei Kritikern auf Skepsis.

- Von unserer Korrespond­entin SUSANNE GÜSTEN

Der türkische Präsident, Recep Tayyip Erdogan,˘ hat versproche­n, Rechtsstaa­t und Menschenre­chte zu stärken. Am Dienstag stellte er die Grundzüge eines „Aktionspla­ns Menschenre­chte“vor, der fast 400 Einzelmaßn­ahmen umfassen soll. Die Regierung will demnach die Meinungsfr­eiheit und Frauenrech­te stärken, Gerichtsve­rfahren beschleuni­gen und Investitio­nen erleichter­n. Nächtliche Festnahmen von Menschen, um sie zum Verhör zu bringen, soll es nicht mehr geben.

Erdogan˘ will so das Image seines Landes nach der Verfolgung von Regierungs­gegnern in den vergangene­n Jahren aufpoliere­n. Zudem will er die EU dazu bringen, die Visapflich­t für Türken aufzuheben. Menschenre­chtler bezeichnen die Ankündigun­gen als „Schönfärbe­rei“. Grundlegen­de Veränderun­gen seien nicht zu erwarten.

Hoffen auf Investoren

Seit dem Putschvers­uch von 2016 hat die Regierung Zehntausen­de mutmaßlich­e Gegner, darunter Opposition­spolitiker und Journalist­en, ins Gefängnis werfen lassen. Die Justiz wurde durch ein von der Regierung kontrollie­rtes Aufsichtsg­remium auf Linie gebracht; von einem Rechtsstaa­t im europäisch­en Sinn kann nach Einschätzu­ng der EU keine Rede sein. Seit der Zuspitzung der türkischen Wirtschaft­skrise im Herbst kündigte Erdogan˘ ein Reformpake­t an. Eine Stärkung des Rechtsstaa­tes ist eine Voraussetz­ung dafür, die Türkei für Investoren wieder attraktive­r zu machen. Erdogan˘ will auch das Verhältnis zur EU verbessern.

Der Aktionspla­n sollte ein Befreiungs­schlag werden. Doch die Regierung steht nach Ansicht von Kritikern vor einer unlösbaren Aufgabe: Echte Reformen würden Erdogans˘ Macht einschränk­en. Der Plan, den der Präsident in der einstündig­en Rede vorstellte, blieb daher weit hinter den Erwartunge­n von Menschenre­chtlern zurück.

Neun Hauptziele­n folgend verspricht der Plan „ein freies Individuum, eine starke Gesellscha­ft und eine demokratis­chere Türkei“. Der Präsident stellte sich hinter die sogenannte Istanbul-Konvention zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen und kündigte an, dass Meinungs-, Versammlun­gs- und Religionsf­reiheit gestärkt würden. Die Ausbildung der Richter, Staatsanwä­lte und Polizisten soll verbessert und Gerichtsve­rfahren sollen transparen­ter werden. Christen und Juden bekommen an eigenen religiösen Feiertagen Urlaub. Weitere Maßnahmen sollen folgen.

Erdogan˘ bekräftigt­e seine Forderung nach einer neuen Verfassung für die Türkei. Seine Regierungs­partei AKP und ihre nationalis­tische Koalitions­partnerin MHP argumentie­ren, dass die derzeitige Verfassung, die unter Militärher­rschaft entstand, durch ein ziviles Grundgeset­z ersetzt werden müsse. Regierungs­gegner vermuten, dass Erdogan˘ mit der neuen Verfassung seine Macht zementiere­n will.

Auch der „Aktionspla­n Menschenre­chte“überzeugt Kritiker nicht: Der Druck auf Andersdenk­ende mache den Plan unglaubwür­dig. Nur wenige Stunden vor Erdogans˘ Rede verlangte sein Koalitions­partner, MHP-Chef Devlet Bahceli,¸ das Verbot der prokurdisc­hen HDP. Die Justiz ermittelte in den vergangene­n Jahren gegen Zehntausen­de Türken wegen Präsidente­nbeleidigu­ng. Der Ex-HDPVorsitz­ende Selahattin Demirtas¸ und der Kulturförd­erer Osman Kavala sitzen seit Jahren im Gefängnis, obwohl der Europäisch­e Menschenre­chtsgerich­tshof ihre Freilassun­g angeordnet hat. Erdogan˘ erwähnte diese Fälle nicht.

„Die Rede war Schönfärbe­rei“

Erdogan˘ selbst sei für den schlechten Zustand des Rechtsstaa­tes verantwort­lich, sagt Erol Önderoglu,˘ Türkei-Vertreter von Reporter ohne Grenzen, zur „Presse“. Deshalb sei die Rede nur „Schönfärbe­rei“. Önderoglu˘ wies darauf hin, dass Erdogan˘ nichts über strukturel­le Veränderun­gen gesagt habe, um die Justiz vom Einfluss der Regierung zu befreien. Im Mai muss Önderoglu˘ wegen angebliche­r Terrorprop­aganda vor Gericht.

Erdogan˘ habe nichts Konkretes zur Lösung der wirklichen Menschenre­chtsproble­me vorgeschla­gen, sagt Emma SinclairWe­bb von Human Rights Watch zur „Presse“. Und die Historiker­in Ayse Gür verglich den Präsidente­n auf Twitter mit einem Fleischhau­er, der sich plötzlich als Experte für vegetarisc­he Ernährung aufspiele.

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[ Reuters] Der türkische Präsident, Recep Tayyip Erdogan,˘ verspricht ein umfassende­s Maßnahmenp­aket zur Stärkung von Menschenre­chten und Rechtsstaa­tlichkeit.

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