Sechs Thesen zu 100 Tagen Rot-Pink
Koalition. Seit 24. November 2020 ist die erste von SPÖ und Neos gebildete Koalition Österreichs auf Landesebene im Amt. Die bisherige Arbeit der ungewöhnlichen Regierungsform.
Wien. Nach exakt 99 Tagen Rot-Pink zogen Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) und Vizebürgermeister Christoph Wiederkehr (Neos) am Dienstag Bilanz über die ersten 100 Tage der Koalition. Dabei zählten Ludwig und Wiederkehr bekannte Kernprojekte aus dem rotpinken Pakt auf: Ausbau der Primärversorgungszentren, das Wiener Sportstättenprogramm, Kampf gegen den Klimawandel mit einem eigenen Klimabudget und einer Fotovoltaik-Offensive etc.
Es wurden allerdings auch neue Projekte bzw. Initiativen präsentiert: Bis Mitte März soll ein sogenannter Regierungsmonitor kommen, „der transparent darstellt, was gelungen ist“, erklärte Wiederkehr. Konkret sollen dort bereits abgearbeitete Projekte aus dem Koalitionspakt online angezeigt werden. Ludwig dagegen kündigte eine Offensive für die Wiener Gastronomie an: Wirte ohne Schanigarten sollen auf öffentlichen Plätzen einen aufstellen dürfen (siehe auch Seite 12). Abgesehen davon hat sich seit dem Antreten von Rot-Pink einiges geändert. Dazu sechs Thesen:
1 Michael Ludwig ist aus dem Schatten seines Vorgängers, Michael Häupl, getreten. Nicht alle in der Wiener SPÖ waren begeistert, als Michael Ludwig Koalitionsverhandlungen mit den Neos ankündigte. Immerhin waren die Neos im linken SPÖ-Flügel als Neoliberale und Privatisierer verschrien. Ludwigs Vorgänger, Michael Häupl, hatte sogar öffentlich plädiert, nicht mit den Neos zu koalieren. Ludwig brach mit der Ära Häupl und fixierte die erste rot-pinke Koalition Österreichs auf Landesebene – und schrieb damit sein eigenes Kapitel in dem politischen Geschichtsbuch für Wien.
2 Rot-Pink löst Rot-Grün als Role Model ab – zumindest in der SPÖ.
Die rot-pinke Rathauskoalition soll Nachahmer finden. Das hat Ludwig mehrfach klargestellt. Er erwarte sich eine Signalwirkung auch für andere Gebietskörperschaften, formulierte es der Bürgermeister. Für die Bundesebene ist das rechnerisch (vor allem mit einer Zweierkoalition) ebenso ausgeschlossen wie Rot-Grün, das bisher als roter Wunschtraum galt. Wobei auch Rot-Pink-Grün auf Bundesebene weit von einer Mehrheit entfernt ist.
Ludwigs Taktik um Rot-Pink als SPÖ-internes Role Model zu verankern: Die (bisher) demonstrativ harmonische Zusammenarbeit von Rot-Pink in Wien soll vielen Genossen die Angst vor einer Zusammenarbeit mit den Neos nehmen. Das betrifft vor allem die SPÖ-Gewerkschafter.
3 Die Neos sorgen für frischen Wind in Wien wie einst die Grünen.
Als die Grünen 2010 in die Stadtregierung kamen, waren sie der innovative Motor der Koalition. Dasselbe ist von den Neos zu erwarten. Zumindest deutet einiges darauf hin. Wiederkehr hat bereits zahlreiche Projekte für seinen Schul- und Integrationsbereich vorgestellt. Als Transparenzstadtrat hat er vor wenigen Tagen ein pinkes Leuchtturmprojekt umgesetzt – eine Whistleblower-Plattform für die Stadt Wien.
4 Im Wiener Rathaus herrscht plötzlich eine neue Art der Harmonie.
Rot-Grün war seit Jahren durch interne Querelen überschattet. Spätestens seitdem die SPÖ einen grünen Gemeinderat dazu bewog, zur SPÖ überzulaufen, herrschte Eiszeit zwischen den Koalitionspartnern. Mit dem Amtsantritt der damaligen grünen Verkehrsstadträtin, Birgit Hebein, hatte sich der Konflikte mit der SPÖ verschärft (Stichwort autofreie Innenstadt). Nun loben Ludwig und Wiederkehr, die persönlich sehr gut miteinander können, bei jeder passenden (und auch unpassenden) Gelegenheit ihre gute Zusammenarbeit. Von rot-pinken Konflikten ist bisher nichts nach außen gedrungen.
5 Die polarisierende Verkehrspolitik ist mit dem Ende von Rot-Grün Geschichte.
Die Grünen wollten mit ihrer Verkehrspolitik ein sichtbares grünes Signal setzen. Die Folge waren polarisierende Projekte. So mussten für Radwege zahlreiche Parkplätze weichen. Begegnungszonen wurden verordnet, deren Sinnhaftigkeit Diskussionen auslöste – auch weil das oft gegen den Widerstand des damaligen roten Koalitionspartners geschah. Die neue Verkehrsstadträtin, Ulli Sima, hat gleich zu Beginn erklärt, sie wolle auch Wunden heilen, die im Verkehrsbereich geschlagen wurden. Und sie werde nicht Verkehrsteilnehmer gegeneinander ausspielen, bei Begegnungszonen und Radwegen das Einverständnis mit allen suchen. Das ist eine radikale Abkehr von der Politik ihrer grünen Vorgängerin, Birgit Hebein.
6 Die rot-pinke Rathauskoalition will grüner als die Wiener Grünen sein.
Rot-Pink verschärft die (unter RotGrün beschlossenen) Klimaziele, Rot-Pink führt ein Klimabudget ein, Rot-Pink vervierfacht die Mittel für den Radwegeausbau, RotPink startet eine Fotovoltaik-Offensive etc. Um Rot-Grün-Sympathisanten ins Boot zu holen, versucht Rot-Pink sich grüner als die Grünen zu geben. Passend dazu eine Aussage der neuen Planungsstadträtin, Ulli Sima: Bei der Neugestaltung von Praterstern und Neuem Markt ließ sie die Pläne ihrer grünen Vorgängerin nochmals überarbeiten. Simas Begründung: „Ich wollte noch mehr Grün.“