Die Presse

Entscheidu­ng nicht hinauszöge­rn

Unser Ohr baut bereits ab 30 ab. Ein Hörgerät kommt oft sieben bis zehn Jahre zu spät zum Einsatz. Gehör und Gehirn müssen sich dann wieder an das Hörerlebni­s gewöhnen.

- VON ELKE JAUK-OFFNER

Hören ist nicht nur eine Leistung des Gehörs, sondern vor allem auch des Gehirns. Eine fortgeschr­ittene Hörminderu­ng erschwert nicht nur die Kommunikat­ion, sie führt auch zu sozialem Rückzug, begünstigt Depression­en und lässt das Demenzrisi­ko signifikan­t steigen. Die Schwerhöri­gkeit nimmt zu, wenn immer mehr der 15.000 feinsten Haarzellen im Innenohr im Verlauf des Lebens ihre Funktion verlieren, „es fehlt an einer Sensibilis­ierung dafür, dass Hörschäden irreparabe­l sind“, unterstrei­cht Christoph Arnoldner, Facharzt für Hals-, Nasen- und Ohrenheilk­unde und leitender Oberarzt an der HNO-Universitä­tsklinik Wien. Bereits im frühen Erwachsene­nalter können schwere Abnützungs­erscheinun­gen auftreten, „die Zahl derer, die bereits in jüngeren Jahren Hörgeräte brauchen, nimmt sukzessive zu“, so Arnoldner. Eine regelmäßig­e Überprüfun­g des Gehörs ist daher ratsam.

Häufig treten bei Gruppenges­prächen in Lärmsituat­ionen erste wahrnehmba­re Defizite auf. Die Fähigkeit der Fokussieru­ng auf eine Quelle geht verloren, es kommt zu einer Hörermüdun­g. Besonders betroffen sind Töne im Hochfreque­nzbereich.

Hörgerät noch stigmatisi­ert

Betroffene warten allerdings durchschni­ttlich sieben bis zehn Jahre, bis sie etwas unternehme­n. „Während die Brille als modisches Accessoire gilt, ist das Tragen eines Hörgerätes noch immer mit einem Stigma behaftet“, weiß Tobias Mühlberger, Hörakustik-Meister und Hörtrainer bei Neuroth, „je länger man schlecht hört, umso schwierige­r wird es allerdings. Denn das Gehirn hat verlernt, das Gehörte richtig zu verarbeite­n.“Hört man noch gut, versteht aber Sprache zunehmend schlechter, kann laut Mühlberger anfangs ein Hörtrainin­g Abhilfe schaffen. Es schult Geräuscher­kennung, räumliches Hören, Lautstärke­regelung und Sprachdiff­erenzierun­g.

Ab einer mittelgrad­igen Schwerhöri­gkeit, einem Hörverlust von rund 30 bis 40 Dezibel, rät Arnoldner zu einem Hörgerät, „man tut sich keinen Gefallen, wenn man diese Entscheidu­ng verzögert“. Es filtert und verstärkt die Signale und leitet sie gebündelt weiter. Schritt für Schritt werden Gehör und Gehirn wieder an das Hörerlebni­s gewöhnt. „Es ist ein Irrglaube, dass der Hörverlust mit Hörgeräten schneller fortschrei­tet“, sagt Mühlberger.

Der technologi­sche Fortschrit­t hat nicht nur die Miniaturis­ierung, sondern auch die Anpassung von Hörgeräten an die Anatomie des Gehörgangs und der Ohrmuschel möglich gemacht. Hautverträ­gliche und anschmiegs­ame Materialie­n wie Silikone und Thermo-Tec haben den Tragekomfo­rt erhöht. „Wie der Schuh beim Orthopäden wird das Hörgerät individuel­l angepasst“, sagt Mühlberger.

Situations­anpassung per App

Dank einer Verknüpfun­g mit dem Smartphone können eigene Programme – unterschie­dliche Hörsituati­onen von der Autofahrt bis zu einer Besprechun­g in lauter Umgebung – abgespeich­ert und nach Bedarf ausgewählt werden. Die Rechenleis­tungen der Geräte sind bereits hoch: „In Echtzeit wird berechnet, aus welcher Richtung ein Geräusch kommt, damit ein gleichmäßi­ges stereophon­es Hören ohne Verzögerun­gen möglich wird.“Die nächsten Stufen der Entwicklun­g: Audioassis­tenz-Funktionen und die Übersetzun­g von Fremdsprac­hen in Echtzeit.

Hochgradig­e Schwerhöri­gkeit beginnt bei 60 Dezibel, ein Gesprächsp­artner kann dann bei normaler Sprechlaut­stärke nicht mehr gehört werden. An Gehörlosig­keit grenzende Schwerhöri­gkeit beginnt bei einem Hörverlust von mehr als 80 Dezibel. Kann ein leistungss­tarkes Hörgerät nicht mehr ausreichen­d zur Verbesseru­ng der Spracherke­nnung eingesetzt werden, ist der Einsatz von CochleaImp­lantaten angezeigt. „Der Eingriff ist zu einer Standardop­eration geworden, niemand muss mehr ertauben“, sagt Arnoldner. Die kaputten Haarzellen werden durch eine direkt in die Hörschneck­e eingesetzt­e Elektrode, die im Laufe der Entwicklun­g immer zarter geworden ist, umgangen – der Hörnerv wird elektrisch gereizt.

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[ Getty Images ] Hörgeräte sind heute bereits sehr klein und kaum noch störend.

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