Die Presse

Sind die Russen die neuen Schweden?

Analyse. Der Kreml scheut Lockdowns, die Russen die Impfung. Aber die Wirtschaft steht gut da. Wie hat das Land das gemacht?

- VON EDUARD STEINER

Wien/Moskau. Als Volodja Lipatow, der nicht mit seinem richtigen Namen genannt werden möchte, sich dieser Tage zum Impfen in einer Moskauer Klinik anmelden wollte, staunte er nicht schlecht. Zwar wusste der 52-jährige Architekt, dass er im Unterschie­d zum Westen nicht darauf warten muss, bis alle Pensionist­en gegen Covid-19 immunisier­t sind. Aber dass er sofort mit der Familie hätte kommen können, fand er doch seltsam. Am Ende beschloss er, noch zuzuwarten. „Die geringe Nachfrage nach der Impfung bei uns hat unsere Skepsis eher noch bestärkt“, sagt Volodja: „Schauen wir mal!“

Der Ansturm auf die Impfung mit dem russischen „Sputnik V“, dem bekanntest­en unter den drei offiziell registrier­ten Vakzinen, hält sich im Land ihres Entstehens in Grenzen. 62 Prozent wollen sich einer neuen Umfrage zufolge – aus Angst vor möglichen Nebenwirku­ngen – nicht impfen lassen. Das ist umso bemerkensw­erter, als das Vakzin im Rest der Welt und auch im Westen immer gefragter wird. Deutschlan­d und Österreich denken sogar über eine Produktion nach. Die anfänglich­e Skepsis ist weg, seit die Fachzeitsc­hrift „The Lancet“Anfang Februar mitgeteilt hat, dass der Wirkungsgr­ad von Sputnik V bei 91,6 Prozent liegt. Die Dosis ist mit zehn Dollar deutlich billiger als Konkurrenz­produkte.

Die Scheu vor Lockdowns

In Russland selbst hingegen sehen sich die Behörden gezwungen, die Menschen mit Schleckeis zum Nadelstich zu locken. Pensionist­en wird die Wiedereinf­ührung der Freifahrt mit öffentlich­en Verkehrsmi­tteln, die zuvor ausgesetzt worden ist, damit sie zu Hause bleiben, angeboten. Auch das Staats-TV wird massiv eingespann­t, um die Botschaft unters Volk zu bringen. Allein, dieses will nicht so recht.

Dabei sollten dem staatliche­n Plan nach bis Herbst 60 Prozent der Bevölkerun­g geimpft sein. Bislang haben verfügbare­n Daten zufolge aber gerade einmal 2,4 Prozent – in Moskau immerhin 4,7 Prozent – zumindest die erste von zwei Teilimpfun­gen erhalten. Den Vergleich mit der von Impfpannen gezeichnet­en EU braucht Russland zwar nicht zu scheuen. Beim Erzfeind USA aber haben immerhin 13 Prozent zumindest eine Dosis und sechs Prozent beide Dosen erhalten. In Großbritan­nien ein Viertel.

Russland tickt offenbar überhaupt anders. Und zwar nicht nur das Volk, sondern auch die Behörden. Während nämlich im Westen weiter Lockdowns bestehen, nimmt das Leben in Russland längst seinen gewohnten Lauf. Ja, die Leute schützen sich mit Masken, aber viele denken ohnehin, dass sie bereits Covid-19 hatten. Das würde auch gar nicht verwundern, war doch der Umgang mit der Pandemie von Beginn an relativ locker wie in Schweden. Im Unterschie­d zum Westen verfügte Russland im Frühjahr 2020 nur ganz am Anfang einen einzigen Lockdown. Wie andere Schwellenl­änder auch habe Russland zu hohe finanziell­e Ausgaben für weitere Lockdowns gescheut, erklärt Wjatschesl­av Smoljanino­v, stellvertr­etender Chefökonom der Moskauer Investment­gesellscha­ft BCS Global Markets, im Gespräch mit der „Presse“: „Man agierte eher nach der Devise: Lebt, arbeitet, zeugt Kinder – und sterbt, wenn es nicht zu vermeiden ist.“

Wirtschaft hält sich gut

Das hat einerseits zu den weltweit vierthöchs­ten Infektions­zahlen geführt. Und auch die Übersterbl­ichkeit war unter den europäisch­en und den G-20-Staaten die zweithöchs­te, konstatier­te der Internatio­nale Währungsfo­nds (IWF) kürzlich – laut Vizepremie­rministeri­n Tatjana Golikowa betrug sie 17,9 Prozent, wobei 81 Prozent davon Covid-19 zuzuschrei­ben seien.

Anderersei­ts kam die Wirtschaft weit besser weg als in anderen Schwellenl­ändern, geschweige denn in den westlichen Staaten, hebt der IWF hervor. Das Bruttoinla­ndsprodukt (BIP), das freilich schon seit der Krim-Annexion im Jahr 2014 schwächelt­e, fiel 2020 um nur 3,1 Prozent, schätzt das staatliche Statistika­mt Rosstat. Im Vergleich zu den minus 7,8 Prozent im Finanzkris­enjahr 2009 ist das nicht einmal halb so viel. In der EU wird mit einem Minus von deutlich über sechs Prozent gerechnet. Der Großteil von Russlands BIP-Rückgang lag an den Turbulenze­n auf dem Markt für Öl, Russlands wichtigste­m Exportprod­ukt.

Russland hatte in der Pandemie den Vorteil, dass der Dienstleis­tungssekto­r, der im Westen ein wesentlich­er Wirtschaft­sfaktor und von den Lockdowns stark getroffen ist, deutlich weniger Bedeutung hat. Zugute kommt dem Land auch das Faktum, dass die Regierung seit dem Ölschock von 2014 eine strenge Budgetdisz­iplin einhält und überschüss­ige Einnahmen aus dem Ölverkauf als Reserven hortet. Die neue Sparsamkei­t zeigte sich freilich auch darin, dass Russland deutlich weniger zur Pandemiebe­kämpfung ausgab als andere Länder. Die zusätzlich­en Budgetausg­aben dafür machten nur 2,9 Prozent des BIP aus, schätzt der IWF.

Nun hat sich auch der Ölpreis wieder erholt. Die internatio­nalen Gold- und Währungsre­serven sind mit aktuell 585,7 Milliarden Dollar seit Monaten relativ stabil nahe am Allzeithoc­h. Und die Staatsschu­lden sind 2020 zwar um 40 Prozent gestiegen, mit nunmehr 17,8 Prozent des BIP aber weiter so niedrig wie sonst kaum wo in der Welt.

Moderater Aufschwung

Da der Wirtschaft­seinbruch 2020 moderat war, wird freilich auch der Aufschwung 2021 moderater ausfallen, sodass der Abstand zum Westen nicht schrumpft. Die Zentralban­k rechnet mit einem BIPZuwachs von drei, vier Prozent. Um das Tempo zu erhöhen, rät der IWF, den Leitzins um einen halben Prozentpun­kt zu senken. Die Zentralban­k freilich, die ihn bereits im Vorjahr von 6,26 auf den historisch­en Tiefststan­d von 4,25 Prozent gesenkt hat, ist vorerst nicht dazu bereit. Zu ungewiss ist der Konflikt mit dem Westen aufgrund der Verhaftung des Opposition­ellen Alexej Nawalny. Zu ungewiss die Entwicklun­g der Pandemie. Und zu unabsehbar die Inflation, die eben wieder auf über fünf Prozent angezogen hat, wobei sie bei Lebensmitt­eln 2020 gar 6,7 Prozent betragen hat, was auch am Importemba­rgo für westliche Agrarprodu­kte liegt.

Und auch, ob die Impfbereit­schaft steigt, ist noch nicht abzusehen. Immerhin hat Sputnik V das Zeug, zum Exportschl­ager zu werden, der im Unterschie­d zu den Rohstoffen zwar nicht viel Geld, aber doch Image bringt. Gut möglich, dass am Ende weltweit viel mehr Menschen mit Sputnik V geimpft sind als Russen selbst.

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[ APA/AFP/Natalia Kolesnikov­a ] Ein Polizist ermahnt eine Russin auf einem Schneehauf­en. Zum Impfen kann man die Leute aber nicht zwingen.

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