Die Presse

So klingt die Freiheit, die Mozart gemeint hat

Mengelberg-Edition. Das Label Pristine erinnert zum 150. Geburtstag des holländisc­hen Dirigenten an dessen legendäre „Telefunken-Aufnahmen“und lässt sie restaurier­en. Zum Auftakt gibt es Beethoven und Tschaikows­ky.

- VON WILHELM SINKOVICZ

Manche CD-Neuerschei­nung lässt den Musikfreun­d sinnieren, wie viel Spontaneit­ät, Individual­ität und Esprit die musikalisc­he Interpreta­tionskunst unserer Zeit doch verloren hat. Sofern sie den Gebrauch des Wortes Interpreta­tion überhaupt noch rechtferti­gt.

Allen, die noch Lust haben, ihre Ohren zu akkommodie­ren und ein historisch­es Klangbild in Kauf zu nehmen, bietet die erste Ausgabe einer Edition des Labels Pristine Gelegenhei­t, sich mit dem Vermächtni­s des holländisc­hen Dirigenten Willem Mengelberg zu beschäftig­en.

Der 150. Geburtstag des Mannes, der ein halbes Jahrhunder­t lang die Geschicke des Amsterdame­r Concertgeb­ouw-Orchesters bestimmte, gab den Ausschlag, seine „Telefunken“aus den Dreißigerj­ahren wieder auszugrabe­n. Wenn es jemanden gibt, der imstande ist, unter Heranziehu­ng der besterhalt­enen Schellack-Platten und der behutsamst­en Filtermeth­oden ein für heutige Hörer nicht nur passables, sondern wirklich befriedige­ndes Hörerlebni­s zu garantiere­n, dann ist das Mark Obert-Thorn.

Auch hier hat er wieder ganze Arbeit geleistet: Die erste Doppel-CD der geplanten Serie stellt zwei Beethoven-Symphonien und zwei Werke von Tschaikows­ky in den Mittelpunk­t. Im Falle Tschaikows­kys stellt sich ja die Frage, warum eine Generation, die sich dem sogenannte­n Originalkl­ang verschrieb­en hat, als Manierismu­s ablehnt, was für Interprete­n, die noch zu Lebzeiten des Komponiste­n geboren wurden, als selbstvers­tändlich galt. Das Portamento etwa, das mehr oder weniger „merkliche“Schleifen von einem Melodieton zum andern. Ebenso die Anpassung des Tempos an den Charakter der melodische­n Entwicklun­g. Viele rhetorisch­e Kunstgriff­e sind heute verpönt, obwohl sie für die Spätromant­iker gängige Praxis waren.

Wenn dann Tschaikows­ky nun im berühmten, vielfach filmmusikt­echnisch missbrauch­ten Seitenthem­a seiner „Pathetique“´ ausdrückli­ch noch „incalzando“vorschreib­t, erwärmt sich die Bewegung unter Willem Mengelberg­s Händen jäh zur Siedehitze. Bewunderns­wert, wie das gesamte Orchester solche Freizügigk­eiten eines Sinnes mitträgt, wie Begleitsti­mmen unter völlig frei schwebende­n Linien sensibel mitgehen, ohne an rhythmisch­er Stetigkeit einzubüßen.

Mengelberg­s Erzählmäch­tigkeit malt die buntesten, reichsten Bilder, aufregende Dramen voll überrasche­nder Wendungen, bis zum letzten Takt unter Hochspannu­ng. Nicht nur bei Tschaikows­ky, sondern auch in Beethovens Fünfter, bei der man hört, warum schon die Zeitgenoss­en sie „Schicksals­symphonie“genannt haben. Nicht minder aber auch bei der „Pastorale“, deren erster

Satz ganz nach Beethovens Vorschrift das „Erwachen heiterer Empfindung­en bei der Ankunft auf dem Lande“hören lässt, so heiter und springlebe­ndig, wie das keinem zweiten Dirigenten je geglückt sein dürfte.

Wer da meint, Mengelberg­s Lust am Rubato, an der freie Modulation von Phrasen sei bei Wiener Klassik nicht am Platz, sollte überlegen, dass nicht nur Beethovens Schüler Czerny für das Spiel seines Lehrers freizügige Temposchwa­nkungen dokumentie­rte, sondern dass sich sogar bei Mozart ein Brief findet, in dem er eine Besonderhe­it seines Klavierspi­els beschreibt: Die rechte Hand agiert rhythmisch völlig frei, während die linke streng im Tempo bleibt. Wer da meint, das sei ein Widerspruc­h, höre, wie Mengelberg Beethovens „Szene am Bach“musizieren lässt: So etwa könnte das vielleicht gemeint gewesen sein . . .

Musik- statt Zeitgeschi­chte

Bevor also zum Geburtstag eines bedeutende­n Dirigenten wiederum nur ein Charakterb­ild aus zeithistor­ischen Argumenten gezeichnet wird (Mengelberg wurde 1945 suspendier­t, weil er während der deutschen Besatzung weitergear­beitet hatte), könnte man zuhören. Apropos. Wer sich dann weiter mit ihm beschäftig­en möchte: Mengelberg kann auch als Kronzeuge gegen die Verkitschu­ng der Musik Gustav Mahlers dienen. Mit diesem Komponiste­n war er befreundet und fragte, legendär, anlässlich einer Probe mit den Philharmon­ikern nach dem Einmarsch der Deutschen in Wien: „Und das Schönste, Mahler, spielt ihr nicht mehr?“

Bei Pristine wird man auch diesbezügl­ich fündig: Neben Bruno Walter war Mengelberg vielleicht der einzige Dirigent, der fähig war, das „Adagietto“aus Mahler Fünfter im richtigen Tempo spielen zu lassen.

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„Die Telefunken-Aufnahmen. Vol. 1“www.pristinecl­assical.com
Willem Mengelberg „Die Telefunken-Aufnahmen. Vol. 1“www.pristinecl­assical.com

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