Bei Covid kommt es nicht nur auf die medizinische Perspektive an
Dem Staat steht es nicht zu, das Leben und die Gesundheit einer Gruppe von Bürgern zulasten des Lebens und der Gesundheit anderer Bürger schützen.
Tatsächlich hat Ulrike Guerot´ weder gesagt noch angedeutet, dass man drei Prozent sterben lassen solle.
In 50 Jahren, sagt der israelische Historiker Yuval Noah Harari, werde man sich „weniger an das Virus erinnern als an den Moment, als die Überwachung aller durch die Regierung begann“. Die größte Gefahr, die von Covid-19 ausgehe, sei wirtschaftlich und politisch, nicht medizinisch.
Heribert Prantl („Süddeutsche Zeitung“) ruft dazu auf, „die Freiheit gegen das Coronavirus zu verteidigen. Die Verteidigung besteht darin, die Grundrechte zu schützen . . . – zu schützen davor, dass das Virus und die Maßnahmen gegen das Virus von den Grundrechten nur noch die Hülle übrig lassen.“
Der deutsche Staatsrechtler Hinnerk Wißmann warnt vor „der Hybris, einen bestimmten Tod aus dem Feld schlagen zu wollen und dafür notfalls die offene Gesellschaft zu opfern“. Mit dem Gebot, menschliches Leben nicht zu schädigen, habe das nichts zu tun.
Keiner von ihnen ist ein Verschwörungstheoretiker,
Maskenfeind oder Impfverweigerer. Sie machen nur darauf aufmerksam, dass es in der Covidkrise nicht nur auf die medizinische Perspektive ankommt. Eine Politik, die nach der Formel „Jeder Tote ist zu viel!“vorgehe, müsse scheitern, wenn sie diese Formel wirklich ernst nimmt, sagt Wißmann, „oder sie führt in die totale Entgrenzung des Maßnahmenstaats“.
Die Politologin Ulrike Guerot´ wurde vor Kurzem auf Twitter einem linksdrehenden Fäkaliensturm ausgesetzt. Der Vorfall ist besonders interessant, weil Guerot´ aufgrund ihres Europäismus und der Zusammenarbeit mit Robert Menasse im linken Milieu viele Freunde hatte. Aus, vorbei, vergessen, seit sie in der „ZiB 2“auf den politischen Gleichheitsgrundsatz der Demokratie verwiesen hat, der es nicht zulasse, die Gesundheit einer Gruppe von Bürgern zulasten der Gesundheit anderer Bürger zu schützen. Der Staat, sagte sie, habe eben „nicht grundsätzlich eine Schutzpflicht für jeden einzelnen Bürger“.
Ulrike Guerots´ Argument, echauffierte sich Robert Misik, laufe darauf hinaus, drei Prozent sterben zu lassen, „um 97 Prozent nicht in ihrer Lebensqualität zu schädigen“. Das sei nicht nur „sowieso falsch“, sondern „Euthanasie-Propaganda“. Tatsächlich hat Guerot´ weder gesagt noch angedeutet, dass man drei Prozent sterben lassen solle, und von „Euthanasie“(= Tötung) kann in diesem Zusammenhang schon gar nicht die Rede sein. Es geht nur darum, Guerot´ als menschenverachtende Zynikerin abzustempeln.
In einem sehr lesenswerten „Presse“Leitartikel hat Köksal Baltaci am Montag einige der Faktoren aufgelistet, deren Einfluss auf das Infektionsgeschehen noch weitgehend unbekannt ist, und zu mehr Bescheidenheit geraten. Politik, Expertokratie und die Medien in ihrem Schlepptau werden sich davon wahrscheinlich nicht beeindrucken lassen. Sie sind nämlich davon überzeugt, dass sie immer von vornherein besser Bescheid wissen, was für den Bürger gut ist, als er selbst. Man sieht, dass sie sich dabei oft irren.
Und weil sie sich oft irren, sind dezentralisierte Entscheidungen weniger gefährlich als zentralistische, denn ihre Folgen sind begrenzt und sie können rascher korrigiert oder modifiziert werden. Das Debakel der europäischen Zentralisten bei der Beschaffung der Impfstoffe ist mittlerweile offenkundig. In Israel wurden mit Stand Ende voriger Woche pro 100 Einwohner bereits 93,5 Impfdosen verabreicht, in Großbritannien 30,8 und in den USA 22,5. Sogar die Türkei (10,14) und Marokko (9,8) liegen noch vor dem EU-Durchschnitt (7,36). Es wäre besser gewesen, den Einkauf den Nationalstaaten zu überlassen.
Gepaart mit der Unfähigkeit oder dem Unwillen, das vom Virus angerichtete Unheil gegen das Unheil abzuwägen, das die Covid-Maßnahmen verursachen, ist die „Anmaßung von Wissen“(Friedrich A. Hayek) das größte Hindernis auf dem Weg aus der Krise. Covid-19 wird bald an Gefährlichkeit verlieren. Über die Anmaßung von Wissen lässt sich das leider nicht sagen.
Zum Autor: Karl-Peter Schwarz war langjähriger Auslandskorrespondent der „Presse“und der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“in Mittel- und Südosteuropa. Jetzt ist er freier Journalist und Autor (kairos.blog).