Bedroht „Political Correctness“die Freiheit der Medien?
Die deutsche „Zeit“ist 75 Jahre alt geworden – und verkennt die größten Gefahren für die Branche.
Die deutsche „Zeit“beging vergangene Woche ihren 75. Geburtstag. Wie es sich für solche Anlässe gehört, schrieb Chefredakteur Giovanni di Lorenzo einen Kommentar unter dem Titel „Wofür stehen wir?“Darin beklagt er, dass die Freiheit der Medien bedroht sei. Womit er recht hat.
Wir stehen am Beginn einer Pleitewelle und Wirtschaftskrise, die das ohnehin wackelige, weil nach wie vor Anzeigen-gesteuerte Geschäftsmodell vieler Medien schnell und brutal treffen wird. In den USA schloss die Tageszeitung „New York Daily News“ihre Redaktionsräumlichkeiten; produziert wird die Zeitung im Home-Office. In Australien sperren Regionalzeitungen zu, in Deutschland endete vergangenes Jahr die Onlineplattform „Buzzfeed Deutschland“, in Österreich das Kinomagazin „Skip“, in Großbritannien die seit 1841 erscheinende „Jewish Chronicle“. Die Nischenpublikationen schwächeln zuerst, der Medienmarkt verliert seine Vielfalt. „Die Zeit“hingegen verzeichnet die höchste Auflage ihrer Geschichte.
Man freut sich für die Jubilarin, keine Frage, ist die Publikation doch eine, die sorgfältig recherchierten Journalismus macht. Aber dass der Chefredakteur dieser Gefahr für die Demokratie gerade einmal einen halben Satz widmet, scheint doch etwas unverhältnismäßig: Die Einnahmen und Auflagen würden durch die Coronakrise wegbrechen, die „Stärken weggespart“werden, schreibt di Lorenzo.
Auch, dass Corona in vielen Ländern – von Ungarn bis China – als Vorwand genutzt wird, um die Pressefreiheit zu schwächen, erwähnt er nicht. Denn den Großteil seines Kommentars widmet er einer Entwicklung, die er für „einschüchternder“hält als „Bedrohungen von außen“, darunter rassistische und misogyne Anfeindungen, die ihm ebenfalls nur wenige Sätze wert sind: „Sie geht von einer amerikanischen Bewegung aus, die im Namen der inzwischen überwiegend negativ besetzten Political Correctness und mit Blick auf die größer werdende Diversität von Gesellschaften mehr Respekt, Teilhabe und Fürsorge einfordert.“
Der Fall des „New York Times“-Reporters Donald McNeil, der die Zeitung verließ, nachdem er bei einer Studienreise rassistische Kommentare gemacht haben soll, ist für di Lorenzo ein beunruhigender „Kulturkampf“. Es ist schade und schädlich, wenn Anschuldigungen von Rassismus, Sexismus oder anderen Formen der Diskriminierung als Vorwand dienen, um renommierte, aber in der Redaktion möglicherweise unbeliebte Angestellte loszuwerden, wie es bei McNeil der Fall gewesen sein dürfte. Aber: Schlechte Ausreden gab es schon immer.
Neu an dieser Entwicklung ist, dass sie von einer Generation von Journalistinnen und Journalisten vorangetrieben wird, deren Verständnis von Journalismus sich verschiebt. „Sagen, was ist“, galt lang als Grundsatz, die Trennung von Journalismus und Aktivismus als selbstverständlich. Nun wird die „neutrale“Position der Berichterstattenden infrage gestellt. „Was ist“und was eben nicht, ist eine Entscheidung, die in der jeweiligen Gesellschaft eingebettet ist – und somit zur Debatte stehen kann und soll. Dass beispielsweise die vollen Namen von Verbrechensopfern zurückgehalten werden, weil sie nicht von öffentlichem Interesse sind, ist vernünftig, keine Frage. Aber warum gilt das als berechtigter Schutz von verletzlichen Gruppen, nicht aber, wenn mehr Inklusion in der Sprache gefordert wird?
Außerdem ist neu, dass sich die Definitionen von Diskriminierung verschieben. Wer anerkennt, dass auch die aufgeklärtesten Köpfe unter uns Vorurteile verinnerlicht haben, dass wir also „ohne Absicht“rassistisch, sexistisch oder diskriminierend sein können, wird sich von Forderungen nach mehr „Respekt, Teilhabe und Fürsorge“weniger angegriffen fühlen. Zum „Kulturkampf“machen solche Forderungen nämlich nicht die Minderheit, die mehr Selbstreflexion einfordert, sondern die Mehrheit, die sich dagegen wehrt. Zu der sichtlich auch der „Zeit“-Chefredakteur zählt.
Wir stehen am Beginn einer Wirtschaftskrise, die das Geschäftsmodell vieler Medien schnell und brutal treffen wird.