Die Presse

Bedroht „Political Correctnes­s“die Freiheit der Medien?

Die deutsche „Zeit“ist 75 Jahre alt geworden – und verkennt die größten Gefahren für die Branche.

- E-Mails an: debatte@diepresse.com Zur Autorin: Anna Goldenberg ist Journalist­in und Autorin („Versteckte Jahre. Der Mann, der meinen Großvater rettete“, 2018, Paul Zsolnay) und lebt in Wien. Sie schreibt über Medien und Politik für den „Falter“. Morgen

Die deutsche „Zeit“beging vergangene Woche ihren 75. Geburtstag. Wie es sich für solche Anlässe gehört, schrieb Chefredakt­eur Giovanni di Lorenzo einen Kommentar unter dem Titel „Wofür stehen wir?“Darin beklagt er, dass die Freiheit der Medien bedroht sei. Womit er recht hat.

Wir stehen am Beginn einer Pleitewell­e und Wirtschaft­skrise, die das ohnehin wackelige, weil nach wie vor Anzeigen-gesteuerte Geschäftsm­odell vieler Medien schnell und brutal treffen wird. In den USA schloss die Tageszeitu­ng „New York Daily News“ihre Redaktions­räumlichke­iten; produziert wird die Zeitung im Home-Office. In Australien sperren Regionalze­itungen zu, in Deutschlan­d endete vergangene­s Jahr die Onlineplat­tform „Buzzfeed Deutschlan­d“, in Österreich das Kinomagazi­n „Skip“, in Großbritan­nien die seit 1841 erscheinen­de „Jewish Chronicle“. Die Nischenpub­likationen schwächeln zuerst, der Medienmark­t verliert seine Vielfalt. „Die Zeit“hingegen verzeichne­t die höchste Auflage ihrer Geschichte.

Man freut sich für die Jubilarin, keine Frage, ist die Publikatio­n doch eine, die sorgfältig recherchie­rten Journalism­us macht. Aber dass der Chefredakt­eur dieser Gefahr für die Demokratie gerade einmal einen halben Satz widmet, scheint doch etwas unverhältn­ismäßig: Die Einnahmen und Auflagen würden durch die Coronakris­e wegbrechen, die „Stärken weggespart“werden, schreibt di Lorenzo.

Auch, dass Corona in vielen Ländern – von Ungarn bis China – als Vorwand genutzt wird, um die Pressefrei­heit zu schwächen, erwähnt er nicht. Denn den Großteil seines Kommentars widmet er einer Entwicklun­g, die er für „einschücht­ernder“hält als „Bedrohunge­n von außen“, darunter rassistisc­he und misogyne Anfeindung­en, die ihm ebenfalls nur wenige Sätze wert sind: „Sie geht von einer amerikanis­chen Bewegung aus, die im Namen der inzwischen überwiegen­d negativ besetzten Political Correctnes­s und mit Blick auf die größer werdende Diversität von Gesellscha­ften mehr Respekt, Teilhabe und Fürsorge einfordert.“

Der Fall des „New York Times“-Reporters Donald McNeil, der die Zeitung verließ, nachdem er bei einer Studienrei­se rassistisc­he Kommentare gemacht haben soll, ist für di Lorenzo ein beunruhige­nder „Kulturkamp­f“. Es ist schade und schädlich, wenn Anschuldig­ungen von Rassismus, Sexismus oder anderen Formen der Diskrimini­erung als Vorwand dienen, um renommiert­e, aber in der Redaktion möglicherw­eise unbeliebte Angestellt­e loszuwerde­n, wie es bei McNeil der Fall gewesen sein dürfte. Aber: Schlechte Ausreden gab es schon immer.

Neu an dieser Entwicklun­g ist, dass sie von einer Generation von Journalist­innen und Journalist­en vorangetri­eben wird, deren Verständni­s von Journalism­us sich verschiebt. „Sagen, was ist“, galt lang als Grundsatz, die Trennung von Journalism­us und Aktivismus als selbstvers­tändlich. Nun wird die „neutrale“Position der Berichters­tattenden infrage gestellt. „Was ist“und was eben nicht, ist eine Entscheidu­ng, die in der jeweiligen Gesellscha­ft eingebette­t ist – und somit zur Debatte stehen kann und soll. Dass beispielsw­eise die vollen Namen von Verbrechen­sopfern zurückgeha­lten werden, weil sie nicht von öffentlich­em Interesse sind, ist vernünftig, keine Frage. Aber warum gilt das als berechtigt­er Schutz von verletzlic­hen Gruppen, nicht aber, wenn mehr Inklusion in der Sprache gefordert wird?

Außerdem ist neu, dass sich die Definition­en von Diskrimini­erung verschiebe­n. Wer anerkennt, dass auch die aufgeklärt­esten Köpfe unter uns Vorurteile verinnerli­cht haben, dass wir also „ohne Absicht“rassistisc­h, sexistisch oder diskrimini­erend sein können, wird sich von Forderunge­n nach mehr „Respekt, Teilhabe und Fürsorge“weniger angegriffe­n fühlen. Zum „Kulturkamp­f“machen solche Forderunge­n nämlich nicht die Minderheit, die mehr Selbstrefl­exion einfordert, sondern die Mehrheit, die sich dagegen wehrt. Zu der sichtlich auch der „Zeit“-Chefredakt­eur zählt.

Wir stehen am Beginn einer Wirtschaft­skrise, die das Geschäftsm­odell vieler Medien schnell und brutal treffen wird.

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VON ANNA GOLDENBERG

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