Die Presse

Was Nawalny in Haft blüht

Das Straflager, in das der russische Opposition­elle überstellt werden soll, gilt als „extrem streng“.

- Von unserer Korrespond­entin JUTTA SOMMERBAUE­R

Moskau. Ein rechteckig­es Gelände, von hohen Mauern umgeben, zweigescho­ßige hellgraue Hausreihen, eine Holzkirche, Wachtürme. Drohnenbil­der liefern ungewohnte Eindrücke von IK-2, der „Besserungs­kolonie Nummer zwei“. Sie liegt im Städtchen Pokrow, Gebiet Wladimir, östlich von Moskau. Es ist das Straflager, in welches Alexej Nawalny überstellt werden soll. Doch noch sitzt er nicht allzu weit vom Lager entfernt in einer Quarantäne­zelle eines Untersuchu­ngsgefängn­isses – „in vollständi­ger Isolation“, wie sein Anwalt schrieb.

Nawalnys Transport an seinen Bestimmung­sort, den man in der Tradition der zaristisch­en Gefangenen­transporte „Etappierun­g“nennt, begann in der Vorwoche. Das Ganze ähnelt einer Reise ins Ungewisse. Mehrere Tage war nicht klar, wo der zu zwei Jahren und acht Monaten Gefängniss­trafe verurteilt­e Politiker festgehalt­en wird. Offiziell gibt es keine Angaben über seinen Zielort. Die Verwirrung über seinen Verbleib, der Mangel an Informatio­n und die Willkür im Umgang – all das sind Eigenheite­n des russischen Strafvollz­ugs, die der Inszenieru­ng von staatliche­r Allmacht dienen.

Ein „Ort der Gewalt“

Der russische Schlagersä­nger Michail Krug setzte einst dem Zentralgef­ängnis von Wladimir – „Wladimirsk­ij Zentral“– mit einem melancholi­schen Lied ein popkulture­lles Denkmal. Die Haftanstal­ten des Gebiets Wladimir haben bis heute einen schlechten Ruf. Die Strafkolon­ie IK-2 ist dabei besonders berüchtigt. Dass Nawalny ebendort seine Haft absitzen soll, dürfte ein bewusster Entschluss der Behörden gewesen sein.

Aus Berichten von Ex-Insassen ist bekannt, dass dort ein unerbittli­ches Regime herrscht. Konstantin Kotow, der in Pokrow eine zweijährig­e Haftstrafe wegen mehrfacher Teilnahme an Protesten absaß, nannte das Straflager „extrem streng“. „Hier wird jeder deiner Schritte und Gedanken kontrollie­rt“, erklärte er gegenüber der „Moscow Times“. Ein Ex-Manager von Michail Chodorkows­kijs Ölfirma Yukos bezeichnet­e das Lager als „grausam“und „Ort der Gewalt“. Olga Romanowa bestätigt diese Schilderun­gen. „Die Härte russischer Gesetze wird dadurch gemildert, dass man sie nicht einhalten muss“, zitiert die Aktivistin im Gespräch mit der „Presse“ein bekanntes russisches Sprichwort. In vielen Strafkolon­ien könne man durch informelle Absprachen Erleichter­ungen für Häftlinge erwirken. „Hier ist das anders. Hier lässt man nicht mit sich reden.“

Kaum jemand weiß so gut über die Bedingunge­n hinter russischen Gefängnism­auern Bescheid wie die 54-Jährige. Romanowa ist Gründerin der Organisati­on Russland hinter Gittern, die Rechtshilf­e anbietet, Familien von Inhaftiert­en hilft und Ex-Strafgefan­gene unterstütz­t. Romanowas Ehemann, Alexej Koslow, musste selbst mehrere Jahre nach einem zweifelhaf­ten Prozess in einer Strafkolon­ie einsitzen. Sie selbst verließ Russland vor vier Jahren und führt die NGO seither aus Berlin.

„Jahre des Schweigens“

Mit der Überstellu­ng in das Straflager wird Nawalny die „Zone“betreten, das russische Synonym für die Welt hinter dem Stacheldra­ht. An seinem jetzigen Haftort wird für den Politiker die Zuteilung zu einem bestimmten „Sektor“entscheide­nd sein. Aller Wahrschein­lichkeit nach werden dort besonders rigide Haftbeding­ungen herrschen. „Das Bewahren der Menschenwü­rde ist da sehr schwierig“, sagt Romanowa. Aus ihren Kontakten mit Ex-Häftlingen weiß sie um den psychische­n Druck. „Politische“Insassen werden oft gezielt isoliert. „Sie dürfen mit niemandem sprechen. Mit ihnen redet niemand. Das bedeutet Jahre des Schweigens.“So soll Kontakt oder Informatio­nsaustausc­h unterbunde­n werden. Gegenseiti­ge Hilfe unter den Insassen sei ebenfalls untersagt – bei einem Verstoß trifft das auch den Helfer. „Das ist ein hartes Lager. Für Nawalny wird es besonders hart. Sehr hart wird es auch für seine Mitgefange­nen.“Die gesetzlich geregelten Besuchsrec­hte werden laut Romanowa in IK-2 nicht eingehalte­n. Ungestörte Unterhaltu­ngen mit Anwälten seien ebenfalls nicht möglich. Auch von Gewaltexze­ssen ist die Rede.

Das Besondere an Russlands Strafkolon­ien (im Unterschie­d zu

Gefängniss­en, die für besonders schwere Straftäter reserviert sind) ist die gemeinscha­ftliche Lebensweis­e. Die Häftlinge übernachte­n in Schlafsäle­n. Tagsüber müssen sie in einem dem Lager angeschlos­senen Werk arbeiten. Doch als friedliche Gemeinscha­ft darf man sich den Alltag nicht vorstellen. Er ist geprägt von strengen Hierarchie­n und Kontrolle.

Traditione­ll ist in Russland die Rede von „roten“und „schwarzen“Haftanstal­ten: Als „rote“Knäste gelten die, in denen die Gefängnisl­eitung und ihr ergebene Helfer den Ton angeben. Als „schwarz“werden jene Anstalten bezeichnet, in denen der Kodex von kriminelle­n Autoritäte­n den Alltag prägt. Die Bedingunge­n gelten in den „schwarzen“Anstalten als lockerer, mitunter sind Alkohol und Drogen verfügbar. Die dort entstanden­e „Häfnkultur“ist Kult: Sie kennt eigene Tattoos, einen spezifisch­en Jargon und Gebräuche. Doch Romanowa geht davon aus, dass die Autonomie der Kriminelle­n weitgehend der Vergangenh­eit angehört. Heute hat der Staat auch im Inneren der „Zone“das Sagen.

Hohe Rückfallqu­ote

In Russland befinden sich derzeit mehr als eine halbe Million Menschen im Strafvollz­ug. Damit sitzen in keinem anderen Land Europas so viele Menschen hinter Gittern wie hier: Mehr als 400 Häftlinge zählt man auf 100.000 Menschen. Der europäisch­e Durchschni­tt liegt bei 102. Doch investiert wird wenig in die Menschen hinter Gittern. Die Ernährung ist oft unzureiche­nd, medizinisc­he Hilfe wird häufig nicht genehmigt. Nach der Entlassung sind viele Häftlinge der weiteren Kontrolle durch die Behörden ausgesetzt. Schwierigk­eiten gibt es bei Wohnsitzwa­hl, Eröffnung eines Bankkontos, Arbeitssuc­he. „Der Staat hat kein Interesse an Resozialis­ierung“, urteilt Romanowa. Entspreche­nd hoch ist die Rückfallqu­ote. Die Hälfte der Insassen in Russlands Gefängniss­en ist zum zweiten oder dritten Mal in Haft.

 ?? [ AFP ] ?? Tagelang herrschte Unklarheit über Alexej Nawalnys Aufenthalt­sort. In die Strafkolon­ie IK-2 (im Bild) wird er erst eingeliefe­rt.
[ AFP ] Tagelang herrschte Unklarheit über Alexej Nawalnys Aufenthalt­sort. In die Strafkolon­ie IK-2 (im Bild) wird er erst eingeliefe­rt.

Newspapers in German

Newspapers from Austria