Umstrittene Ermittlung zu Gaza-Krieg
Nahost. Der Internationale Strafgerichtshof leitet Untersuchungen zu möglichen Verbrechen in den Palästinensergebieten ein. Israels Regierung zeigt sich empört.
Tel Aviv. Ein junger Israeli ruft seine Mutter aus dem Ausland an, seine Stimme klingt panisch. „Mama, ich wurde festgenommen!“Die ausländischen Behörden, fährt er fort, werfen ihm Kriegsverbrechen vor. Der fiktive Dialog läuft im Werbeteil israelischer Radiosender – eine Aktion einer Lobbygruppe, die vor einer Verfolgung israelischer Soldaten durch den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) warnt.
Seit dieser Woche entfaltet dieses hypothetische Szenario in Israel neuen Schrecken: Die Chefanklägerin des IStGH in Den Haag, Fatou Bensouda, hat Ermittlungen zu möglichen Verbrechen in den palästinensischen Gebieten eingeleitet. Untersucht werden soll die „Situation seit dem 13. Juni 2014“, wie das Gericht nun mitteilte. Damit bezieht es sich auf die militärische Auseinandersetzung zwischen Israel und der Terrororganisation Hamas, die den Gazastreifen regiert. In Israel geht jedoch die Sorge um, dass israelische Offiziere und Politiker angeklagt und mit internationalen Haftbefehlen belegt werden könnten.
„Das ist reiner Antisemitismus und der Höhepunkt der Scheinheiligkeit“, ließ Israels Premier, Benjamin Netanjahu, verlauten. „Dieses Gericht, das gegründet wurde, um die Wiederholung der furchtbaren Nazi-Verbrechen gegen das jüdische Volk zu verhindern, richtet seine Waffen nun auf den einzigen jüdischen Staat.“Auch US-Außenminister Antony Blinken lehnt die Entscheidung „entschieden“ab. Die Palästinensische Autonomiebehörde und die Hamas in Gaza begrüßten sie hingegen.
Frage der Zuständigkeit
Juristisch ist der Fall komplex. Zwar ist „Palästina“seit 2015 Vertragsstaat des Gerichts – im Gegensatz zu Israel. Manche Experten meinen aber, der IStGH sei nicht zuständig für die Palästinensergebiete, weil es sich bei ihnen nicht um einen souveränen Staat handele. Im Februar verkündete der IStGH aber, er könne auch in den Palästinensergebieten ermitteln.
Beim siebenwöchigen Krieg 2014 kamen etwa 2200 Palästinenser und 72 Israelis ums Leben. Auslöser war die Entführung dreier israelischer Teenager durch die Hamas am 12. Juni 2014 und ihre Ermordung kurz darauf. Die Ermittler des IStGH sollen nur Ereignisse ab dem 13. Juni untersuchen – die Entführung der drei Israelis also nicht berücksichtigen.
Mit seiner Entscheidung fällt der IStGH indirekt ein Urteil über Israels Rechtssystem: Das 2002 gegründete Gericht soll Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen sowie Verbrechen der Aggression verfolgen – aber nur dann, wenn ein Staat nicht selbst zur gerechten Strafverfolgung bereit oder fähig ist.
Daniel Reisner, der früher die Rechtsabteilung der israelischen Armee leitete, hält es deshalb noch nicht für entschieden, ob der IStGH tatsächlich mutmaßliche israelische Verbrechen untersuchen wird. Sollte das Gericht feststellen, dass israelische Gerichte selbst gegen Soldaten ermittelt haben – was vorkommt, wenn auch Kritiker die Strafen oft für zu lasch halten –, „dann wird das Gericht keine Zuständigkeit haben“.