Quergeschrieben von Christian Ortner
Das monumentale Versagen der EU beim Beschaffen der Coronaimpfstoffe bleibt ungesühnt und ohne persönliche Konsequenzen. Das ist unerträglich.
Danke, Frau Präsidentin, mit Verlaub, verarschen können wir uns auch selber.
Ein „Zeichen europäischer Solidarität“nennt Gesundheitsminister Rudolf Anschober die Zusage der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, extra Impfstoff für einen von Coronamutationen betroffenen Tiroler Bezirk zu liefern. Und er hat auch irgendwie recht: Die an Corona gescheiterte Kommissionspräsidentin ist wirklich solidarisch mit dem gescheiterten österreichischen Minister. Was sie eint: Ihr Scheitern wird folgenlos bleiben. Und das empört viele, völlig zu Recht.
Wäre von der Leyen dabei ertappt worden, ihre Dissertation erschwindelt zu haben, müsste sie wahrscheinlich zurücktreten. Zahlreiche vergleichbare Fälle in mehreren EU-Staaten lassen das vermuten. Wäre sie bei irgendwelchen gröberen finanziellen Unregelmäßigkeiten betreten worden, müsste sie mit ebenso hoher Wahrscheinlichkeit zurücktreten. (Das war sogar in ihrer eigenen Behörde schon einmal so, als die von Jaques Santer angeführte EU-Kommission 1999 gehen musste.) Und wäre sie irgendwelcher gröberer privater Verfehlungen überführt worden – auch das hat schon führende Politiker das Amt gekostet.
Dass von der Leyen ganz eindeutig die politische Verantwortung dafür trägt, dass der EU bei der Beschaffung des Coronaimpfstoffes gravierende Fehler unterlaufen sind, die viele Tausende Menschen das Leben kosten werden, unnötige Kosten von unzähligen Milliarden Euro verursachen und schließlich das Ansehen der EU in enormem Ausmaß beschädigen werden – all das reicht offenkundig nicht einmal annähernd aus, die Dame aus dem Amt zu entfernen, dem sie nicht gewachsen ist. Dass aus dem von ihr proklamierten „Europäischen Moment“ein europäisches Monument wurde, und zwar eines des Versagens, auch das reichte nicht aus, Konsequenzen nach sich zu ziehen.
Das ist eine Schande für Europa, für seine Institutionen und ganz besonders für das Europäische Parlament, das diese Kommission ja bekanntlich jederzeit absetzen könnte. Stattdessen nimmt dieses Parlament dieses Versagen hin, als sei es irgendwie gottgegeben und deshalb hinzunehmen. Von der Leyen, offenbar nicht fähig, ihr Versagen zu begreifen, bewegt das zu weiteren Dreistigkeiten. „Dank des europäischen Ansatzes haben wir heute ein breites Angebot an Impfstoffen, die wir auch gegen die Mutationen nutzen können“, gab sie jüngst zu Protokoll. Als ob jene Staaten wie das Vereinigte Königreich, die USA oder Israel, die nicht zwei Monate verpennt haben, dieses Angebot nicht hätten. – Danke, Frau Präsidentin, mit Verlaub, verarschen können wir uns auch selber.
Das Ganze erinnert ein wenig an jenen unsäglichen, Angela Merkel wohl nicht zu Unrecht zugeschrieben Sager im Nachgang zur großen Migrationswelle 2015/16 und den damit verbundenen Problemen: „Jetzt sind sie halt da.“
In der Fassung der von Merkel protegierten Dame von der Leyen heißt das dann 2021: „Jetzt sterben sie halt.“Oder, in der Version des österreichischen Impfexperten Anschober, im Dezember 2020 über die Impfung: „Jetzt kommt es auf ein paar Wochen auch nicht mehr an.“– Klar, kann ja jedem einmal passieren, und jetzt bitte positiv denken. Schließlich brauchen wir die EU dringlich, um zu verhindern, dass Krieg zwischen Deutschen und Franzosen ausbricht, und nicht zur Beschaffung von ein paar Ampullen Impfstoff. Und jetzt bitte schnell weitergehen, es gibt hier nichts zu sehen.
Zwar ist die Kommissionspräsidentin für ihr Versagen und dessen tödliche Konsequenzen kritisiert worden, doch wird sie mit hoher Wahrscheinlichkeit ihr Amt behalten dürfen.
Indem das Europäische Parlament davon absieht, sie des Amtes zu entheben, macht es sich mitschuldig daran, dass die EU von vielen ihrer Insassen wieder einmal als Teil des Problems gesehen wird. Jene, die das Versagen der Kommissionspräsidentin schönreden und decken, arbeiten letztlich an der Delegitimierung des „Europäischen Projektes“.
Zum Autor: Christian Ortner ist Kolumnist und Autor in Wien. Er leitet „ortneronline. Das Zentralorgan des Neoliberalismus“.
Morgen in „Quergeschrieben“: Anneliese Rohrer