Die Presse

Mit dem Messer an der Kehle

Dragica Rajˇci´c Holzner über die „mörderisch­e“Beziehung eines Paars, das aus Kroatien emigriert.

- Von Cornelius Hell

Die alte Geschichte vom Höhenflug der Liebe und ihrem noch tieferen Absturz in Gewalt, Entfremdun­g und Verzweiflu­ng wurde schon oft erzählt – aber noch nie so wie im Roman „Liebe um Liebe“von Dragica Rajciˇc´ Holzner. Er lässt eine Migrantin aus Ex-Jugoslawie­n in der fremden Sprache, im amerikanis­chen Englisch, zur eigenen Sprache kommen, in der sie von sich erzählen kann. Aber nicht nur von sich, denn der Roman beginnt zwar am 24. Juni 2011, doch schon das zweite Kapitel blickt zurück in das Jahr 1919 und eröffnet das Panorama einer Familienge­schichte, in der Frauen Gewalt angetan wird, sie in den Tod getrieben werden und weder Schutz noch Hilfe erfahren – von den eigenen Eltern schon gar nicht.

Ana Jagoda, die Ich-Erzählerin, steht an dessen Beginn in der Herzstatio­n eines Spitals in Split und hat Angst, dass Igor, der Mann mit dem und vor dem sie geflohen ist, sie in seiner Todesangst noch einmal mit in den Abgrund zieht. Und am Ende fliegt sie zurück nach Chicago – dorthin, wo das neue Leben mit Igor, die Hoffnung auf ein Entkommen aus der Familienge­schichte, endgültig misslungen ist.

Dazwischen liegt eine Kindheit in Jugoslawie­n, in einem kleinen Dorf, dem der Roman den ironischen Namen „Glück“gibt, und in dem der Vater die Kinder so tyrannisie­rt, dass sie um seinen Tod beten, während sich die Mutter im Schlafzimm­er einsperrt. „Die Kinder hatten Angst vor der Strafe, vor dem Hosengürte­l, die Wunden sahen im Frühling schrecklic­h aus auf weißen Oberschenk­eln. Erst dunkelblau, dann gelblich.“

Als Ana schwanger wird, denkt sie daran, sich wie andere Frauen das Leben zu nehmen, doch dann beschließt sie über das ungeborene Kind: „Ich muss es töten, bevor Vater mich tötet.“Als sich Ana in Igor verliebt, flieht sie bald mit ihm nach Split, um ihrer Familie zu entkommen, und flüchtet trotz aller negativen Vorzeichen in eine Ehe mit ihm. „In der Hochzeitsn­acht war Igor

Qbetrunken. Igors betrunkene Zunge sagte: ,Wegen eines Augenblick­s muss ich jetzt büßen.‘“In den USA, wohin das Paar emigriert ist, muss sie um ihr Schreiben kämpfen, an dem ihr schon seit frühester Jugend viel liegt. Und sie muss flüchten vor Igor, der ihr einmal das Messer an die Kehle setzt. Sie findet Zuflucht im „Womanirrha­us“und macht dort im zweiten Teil des Romans eine Art Familienau­fstellung: Sie spielt die Rollen der übrigen Familienmi­tglieder durch, um diese und sich selbst zu verstehen.

Hat Dragica Rajciˇc´ Holzner bisher, vor allem in ihrer Lyrik, in einer Kunstsprac­he geschriebe­n, einem systematis­ch fehlerhaft­en Deutsch, so hält sie sich hier an die gängige Grammatik, streut aber immer wieder kroatische Wörter ein, ohne sie zu übersetzen – ein Signal, dass die Herkunftsw­elt nicht glatt transponie­rbar ist. Sie (er)findet Bilder und Ausdrücke, die einen nicht loslassen. Ein Höhepunkt: der Beginn des dritten Teils, ein „Großer Traum“, der deutlich auf Bachmanns Roman „Malina“anspielt und ihm einen „Friedhof der auferstand­enen Töchter“entgegense­tzt. Der Traum wird noch einmal mit der Realität des Besuches in Split konfrontie­rt: „Sehen, sehen, sagte ich mir, nicht denken, an der Oberfläche der Augen die Welt anhalten, Gedanken abprallen lassen, während die Haut in der Morgenfris­che fror.“

Dragica Rajciˇc´ Holzner lebt in und zwischen mehreren Sprachen und Dialekten. Sie hat nicht einfach auf die Wucht ihres Stoffes vertraut, sondern einen sprachlich fasziniere­nden Roman geschriebe­n, der aus den Neuerschei­nungen der vergangene­n Jahre hervorstic­ht.

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Liebe um Liebe Roman. 168 S., geb., € 20,60 (Matthes & Seitz Berlin Verlag, Berlin)
Dragica Rajˇcic´ Holzner Liebe um Liebe Roman. 168 S., geb., € 20,60 (Matthes & Seitz Berlin Verlag, Berlin)

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